Neurobiologische Effekte und psychische Auswirkungen des Fastens

Der Mensch ist ein soziales Wesen, und sein Gehirn ist in besonderer Weise an die Erfordernisse des sozialen Zusammenlebens angepaßt.

Fast alles, was wir mit diesem Organ machen, was wir also wahrnehmen, wie wir diese Wahrnehmungen bewerten, was wir Fühlen und Denken und, nicht zuletzt, wie wir handeln, ist nicht angeboren, sondern wird durch das sozial determinierte Bedingungsgefüge bestimmt, in das wir hineinwachsen. Die dabei gemachten Erfahrungen sind entscheidend an der Strukturierung der im Gehirn angelegten, anfangs noch sehr offenen Verschaltungen beteiligt. Die nachhaltigsten Erfahrungen, die wir als Menschen machen können und die besonders tief in unserem Gehirn verankert werden, sind Erfahrungen, die uns helfen, die Angst und die damit einhergehende Streßreaktion kontrollierbar zu machen: durch die Aneignung von Wissen und Kompetenz, durch das Erreichen von psychosozialer Geborgenheit, durch das Streben nach Macht und Einfluß, oder auch durch die Kraft des Glaubens. Als erfolgreich bewerten wir eine dieser Strategien dann, wenn sie uns hilft, den Einklang zwischen uns und der uns umgebenden Welt wiederherzustellen. Erst dann fühlen wir uns "beruhigt", das heißt das alarmierende Durcheinander in unserem Kopf (das Arousal in assoziativen und limbischen Hirnregionen) kommt endlich zur Ruhe.

Neuronales Netzwerk

Die Informationsverarbeitung im Zentralen Nervensystem wird heute als ein gleichzeitig seriell und parallel ablaufender Prozeß der Aktivierung multifokaler, eng miteinander verschalteter neuronaler Netzwerke verstanden. Jedes dieser Netzwerke besitzt strukturell festgelegte Verschaltungen mit anderen Netzwerken. Jede von Außenreizen oder inneren Verarbeitungsmechanismen ausgelöste Veränderung des Aktivierungszustandes eines bestimmten Netzwerkes wird so auf andere Netzwerke übertragen. Kann keine geeignete Reaktion zur Beseitigung der so entstandenen Störung ausgelöst werden, so bereitet sich die Erregung als unspezifische Aktivierung aus und erreicht schließlich auch für die emotionale Reaktionen (Streß und Angst) verantwortliche limbische Hirnregionen.

Anhalten läßt sich dieser Prozeß auf unterschiedliche Weisen: durch Aktivierung einer Verhaltensreaktion, die den "Unruheherd" abstellt (s.o.), durch die Einnahme von Pillen, die die Erregungsübertragung hemmen (Beruhigungsmittel, z. B. Alkohol oder Benzodiazepine) oder durch die Stimulation eines global wirksamen Transmittersystems (z. B. durch vermehrte Zufuhr von Kohlenhydraten oder Fett, aber auch durch Fasten). Die Aktivität der in verschiedenen Bereichen des ZNS operierenden lokalen Netzwerke wird nämlich durch "überregionale" Systeme mit weitreichenden Projektionen kontrolliert und aufeinander abgestimmt. Ein besonders effektives, globalisierend und harmonisierend auf die in räumlich getrennten, regionalen Netzwerke des Gehirns generierten Aktivitäten wirkendes Transmittersystem ist das serotonerge System. Die Fortsätze seiner im Mittelhirn lokalisierten Nervenzellen ziehen wie ein riesiger "Projektionsbaum" in alle Hirnbereiche und schütten normalerweise an ihren Enden (den serotonergen Präsynapsen) während des gesamten Tages regelmäßig ihren Botenstoff Serotonin aus (3-5mal/Sekunde), der die Erregbarkeit der nachgeschalteten Nervenzellen beeinflußt: Auf diese Weise übt das serotonerge System einen ständig präsenten global wirksamen "Harmonisierungseffekt" auf die im ZNS ablaufenden Informationsprozesse aus. Nur während des Traumschlafes erlischt die Aktivität dieses serotonergen Systems. Verstärken läßt sie sich durch Psychopharmaka und bestimmte Drogen (Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, Ecstasy) und durch nutritive Manipulationen: kurzfristig (postprandial) durch den Verzehr von stark kohlenhydrat- und/oder fetthaltigen Nahrungs- (bzw. Genuß-)mitteln, längerfristig durch Nahrungsrestriktion (Fasten).

Fasten, Serotonin und Psyche

Aus Tierversuchen ist schon seit längerem bekannt, daß es auch bei kurzzeitiger Nahrungskarenz zu einer erhöhten Tryptophanverfügbarkeit im Gehirn und daher zu einer gesteigerten Serotoninsynthese und -freisetzung durch serotonerge Präsynapsen kommt. Noch interessanter ist ein zweiter Effekt auf das serotonerge System, der erst nach einigen Tagen eintritt (18): Nahrungsrestriktion vermindert die Anzahl von Serotonintransportern in den Nervenendigungen serotonerger Neurone. Wenn Ratten nur die Hälfte ihrer normalerweise täglich aufgenommenen Futtermenge bekommen, führt diese restriktive Ernährung (die mit einer 10-20%igen Gewichtsreduktion einhergeht) nach einer Woche zu einer deutlichen Verringerung der Dichte von Serotonintransportern im Kortex. Nach vierzehntägiger Nahrungsrestriktion ist dieser Effekt noch ausgeprägter. Aufgrund der verringerten Serotonintransporterdichte im Kortex kommt es zu einer permanent verminderten Effizienz der Wiederaufnahme des freigesetzten Transmitters. Die erhöhte Konzentration und längere Verweildauer von Serotonin im extrazellulären Raum ermöglicht eine länger andauernde und weiter reichende Interaktion dieses Transmitters und Neuromodulators mit einem seiner zahlreichen Rezeptoren an nachgeschalteten neuronalen oder glialen Zellen. Durch die zusätzlich bei restriktiver Ernährung gesteigerte Serotoninsynthese und -freisetzung wird die extrazelluläre Konzentration des Serotonins und damit die Dauer und der Radius der Transmitterwirkung in noch stärkerem Ausmaß als durch die selektiven Wiederaufnahmehemmer erhöht.

Spannungslösender Effekt des Fastens

Die psychischen Effekte des Fastens sind ebenso beeindruckend wie altbekannt. (...) In vielen Kulturen wird das Fasten zur Erlangung transzendentaler Bewußtseinszustände im Rahmen religiöser oder spiritueller Handlungen angewendet. Selbst religiöse Gebräuche wie unsere vorösterliche Fastenperiode oder der islamische Ramadan scheinen auf der empirischen Erfahrung dieser biologischen Effekte zu beruhen. Das Fasten wurde aber auch von verschiedenen medizinischen Schulen zu Heilzwecken benutzt. Schon im vierten Jahrhundert v. Chr., zur Zeit des Hippokrates, begann man, das Fasten zur Therapie körperlicher und geistiger Erkrankungen einzusetzen. Heute wird es verstärkt im Rahmen der Ganzheitsmedizin, z. B. in Fastenkliniken, angewendet. Nach zwei oder drei Fastentagen, also etwa dann, wenn sich auch bei Versuchstieren die Herabregulation der Dichte von Serotonintransportern beobachten läßt, (...) erleben (die meisten Menschen) eine deutliche Stimmungsstabilisierung, die manchmal sogar mit Euphorie und Gefühlen der Transzendenz einhergeht.

Macht Fasten süchtig?

Doch ebenso wie der Verzehr von Kohlenhydraten und Fett zum Zweck der Angstbewältigung süchtig machen kann, steckt auch in der Entdeckung der Null-Diät als Angstbewältigungsstrategie ein Suchtpotential. Wenn vulnerable Personen anhaltenden, schwer kontrollierbaren Belastungen ausgesetzt sind, ist die Gefahr besonders groß, daß die psychischen Effekte des Fastens von ihnen als eine Möglichkeit der Angstbewältigung entdeckt werden. Die bei längerandauernder Nahrungsrestriktion auftretende permanente Herabregulation der Serotonintransporter, die daraus resultierende Stimulation serotonerger Aktivität und ihre subjektiv erlebten psychischen Auswirkungen bieten so eine mögliche Erklärung für die Entstehung von Eßstörungen. Personen, die diese stimmungsstabilisierenden Effekte des Fastens als besonders positiv empfinden, können so sehr leicht in einen Teufelskreis geraten, der nur sehr schwer zu durchbrechen ist. Da die Herabregulation der Serotonintransporter durch Nahrungsrestriktion bei Jugendlichen leichter auslösbar ist als bei älteren und da das über die Medien verbreitete Idealbild von "schönen = schlanken" Menschen besonders junge Frauen zum Fasten motiviert, ist die hohe Prävalenz von Eßstörungen in diesem Bevölkerungssegment wenig erstaunlich.

Hungern versus Fasten: Ein kleiner, aber entscheidender Unterschied

Nur wer freiwillig auf Nahrung verzichtet, fastet. Alle anderen essen entweder nichts, weil sie aufgrund metabolischer oder hormoneller Umstellungen die Nahrungszufuhr einstellen und keinen Hunger verspüren (z. B. Menschen bei Erkrankungen, Tiere im Winterschlaf oder während bestimmter Phasen des Reproduktionszyklus), oder sie leiden Hunger.

Hunger ist ein sehr beherrschendes Gefühl und löst - wenn es nicht befriedigt werden kann - heftige Unlust aus, die mit entsprechenden Veränderungen zentralnervöser Verarbeitungsmechanismen (fokussierte Aufmerksamkeit, erhöhte Aggressivität, motorische Unruhe, etc.) und einer Aktivierung der neuroendokrinen Streßreaktion einhergeht. Vieles, was sich bei einer hungernden Ratte an Veränderungen messen läßt, ist auch auf einen hungernden Menschen übertragbar; beide durchlaufen eine ähnliche Sequenz metabolischer und hormoneller Anpassungen an die nutritive Mangelsituation, und bei beiden kommt es zur Aktivierung Streß-sensitiver Systeme im Gehirn (initial vermehrte Katecholaminausschüttung, die schließlich zu einer Katecholaminverarmung führen kann). In beiden Fällen kommt es zu einer Stimulation des hypothalamo- hypophyseo-adrenokortikalen Systems, die mit einer vermehrten Bildung und Ausschüttung von Cortikotropin-Releasing-Hormon (CRH) von ACTH und ß-Endorphin (das als "Nebenprodukt" bei der Prozessierung von ACTH aus Proopiomelanocortin entsteht) und schließlich von Cortisol (bzw. bei der Ratte von Corticosteron) einhergeht. All diese Substanzen lösen ihrerseits als Signalstoffe wieder eine ganze Reihe weiterer Reaktionen im ZNS aus. Die Auflistung dieser streßbedingten neurobiologischen und neuroendokrinen Effekte sowie der verhaltensrelevanten und psychischen Auswirkungen des Hungerns ließe sich noch endlos fortsetzen.

Das Entscheidende jedoch ist: Diese ganze Kaskade wird nicht nur nicht ausgelöst, sondern sogar recht effizient unterdrückt, wenn man nicht hungert, sondern fastet - freiwillig, ohne Angst und ohne Streß. Damit wird die individuelle Bewertung entscheidend für die durch eine eingeschränkte Nahrungszufuhr ausgelösten neurobiologischen und neuroendokrinen Effekte und deren Auswirkungen auf die Psyche und den Körper.

Quelle: UGB-Tagung "Fasten aktuell", 6.-8.05.1999

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