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Macht Zucker süchtig?

Die meisten Menschen wissen, dass Zucker nicht gesund ist. Dennoch können sich viele zuckerreiche Backwaren, Süßigkeiten oder Gummibären einfach nicht verkneifen. Gibt es tatsächlich so etwas wie eine Zuckersucht?

zuckersucht

Eine gängige Empfehlung von Ernährungswissenschaftlern lautet, den Konsum von Süßem einzuschränken. Doch gerade wenn Zuckerreiches auf der Verbotsliste steht, wächst das Verlangen nach Süßigkeiten um so mehr. Nicht wenige beobachten gar suchtähnliche Verhaltensweisen an sich. Sie nehmen sich ernsthaft vor, auf Süßes zu verzichten, greifen dann aber mit regelrechter Gier zur Tafel Schokolade oder der Tüte Fruchtgummis. Wissenschaftler versuchen, die Mechanismen dahinter zu ergründen.

Die Symptome des starken Verlangens nach etwas Süßem lassen sich durchaus mit anderen Sucht­erkrankungen vergleichen: starkes Verlangen, mangelnde Selbstkontrolle und der Bedarf immer größerer Mengen. Doch der „Substanzgebrauch“, wie es bei anderen Drogen heißt, kann nicht wie bei Alkohol oder Rauchen einfach eingestellt werden. Denn Zucker ist in unzähligen Lebensmitteln enthalten. Nicht nur in offensichtlich süßen Produkten, sondern auch in verarbeiteten Fertigprodukten, zum Beispiel Ketchup, Senf, Soßen oder sogar im Kaffeepulver ist er zu finden. In den Zutatenlisten versteckt sich Zucker hinter zahlreichen Bezeichnungen, wie Saccharose, Lactose, Fruktose(-sirup), Fruchtzucker, Glucose(-sirup), Traubenzucker, Invertzucker(-sirup), Dextrose oder (Malto)-Dextrine. Für Verbraucher ist es also gar nicht so leicht, ihn vollständig zu vermeiden.

„Zucker kann ähnlich wie eine Sucht wirken, er macht Appetit auf mehr“, warnt beispielsweise Dr. Dietrich Garlichs, Geschäftsführer der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) aus Berlin. Denn Zucker gelangt ohne Umwege direkt in die Blutbahn, treibt den Blutzuckerspiegel hoch und lässt ihn ebenso schnell wieder abfallen – mit dem Ergebnis, dass sich der Hunger erneut meldet.

Belohnungssystem im Gehirn

Was genau passiert in unserem Gehirn, wenn wir Süßes essen? Das wollten wir von Dr. Martin Grosshans wissen, der an der Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim forscht. Sein Schwerpunkt sind die Abläufe im Gehirn, die sich bei klassischen Sucht­erkrankungen und Adipositas überschneiden. Er erklärt: „Beim Essen von zuckerhaltiger Nahrung sind unterschiedliche Prozesse involviert. Der Geschmack süß wird in den meisten Fällen als positiv empfunden“. Über eine Reihe von Abläufen werde im Gehirn daraufhin das sogenannte Belohnungssystem aktiviert. Ähnlich wie beim Konsum von Alkohol oder Drogen oder auch beim Sex, verursache es vor allem über den chemischen Botenstoff Dopamin ein angenehmes Gefühl, erklärt der Experte. Damit steige die Motivation, dieses Gefühl wiederholen zu wollen. Kein Wunder also, dass wir bei bestimmten Anlässen oder Situationen ein besonders starkes Verlangen nach etwas Süßem entwickeln – sei es zum Kaffee am Nachmittag oder dem Stück Schokolade am Abend, bei besonderem Stress oder Ärger: Wir wollen uns schlicht belohnen. „Das Wissen um das positive Gefühl, das beim Essen von Süßem und damit kalorienreichen Speisen entsteht“, so Dr. Grosshans weiter, „hat in der Vergangenheit zum Überleben des Menschen beigetragen. Denn kalorienreiche Nahrung war oft nur sehr begrenzt vorhanden.“

Wirkt Zucker im Gehirn wie Drogen?

Wenig verwunderlich ist es, dass die Zuckerindustrie von einer Sucht nach Zucker nichts wissen will. So hätten die Messungen bei Ratten zwar gezeigt, dass nach der Aufnahme von Saccharose oder Glucose im Gehirn der Botenstoff Dopamin ausgeschüttet werde. Nach Verabreichung von Drogen lägen die Dopaminspiegel aber erheblich höher. Zudem erfolge eine messbare Dopaminausschüttung generell als Folge von Belohnungen. Das gelte auch für Musikhören, einem Gewinn oder einem freundlichen Gesicht. Außerdem nehme bei wiederholter Gabe von Lebensmitteln die Dopaminausschüttung ab, bei Drogen hingegen nicht.

„Hier werden wichtige Unterscheidungskriterien von klassischen Suchterkrankungen wie Drogen oder Alkoholabhängigkeit mit den umstrittenen Begriffen Zuckersucht oder auch Esssucht angesprochen“, kommentiert Dr. Grosshans die Studienergebnisse. „Es stimmt, dass die Dopamin­ausschüttung durch Drogen viel höher ist als durch das Essen von zuckerhaltiger Nahrung oder Getränke. Andererseits ist die Dopaminausschüttung durch zuckerhaltige Nahrung wiederum viel höher als beispielsweise nach dem Essen einer rohen Karotte.“ Im Übrigen nehme die Dopaminausschüttung beim wiederholten Gebrauch von Drogen auch ab. Daher müsse ja die Dosis im Verlauf immer weiter gesteigert werden, um die gleichen Glücksgefühle zu verursachen, gibt der Gehirnspezialist zu bedenken.

Veränderungen im Gehirn

Ein hoher Zuckerkonsum führt zu Umbauvorgängen an den Schaltstellen zwischen den Nervenzellen im Gehirn, den Synapsen. Das konnte in Tierversuchen einer Forschergruppe um Prof. Rainer Spanagel, ein Kollege von Dr. Grosshans, nachgewiesen werden. Diese Veränderungen zeigten sich nicht nur kurzfristig, sondern das Gehirn erinnere sich auch später noch daran und könne ein Verlangen nach Zucker auslösen.

Auch Suchtmediziner Prof. Falk Kiefer, leitender Oberarzt am Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim, wartet mit spannenden Ergebnissen auf. Er konnte mit bildgebenden Verfahren Unterschiede zwischen Über- und Normalgewichtigen zeigen: Bei Übergewichtigen reagieren tatsächlich bestimmte Hirnregionen anders als bei Normalgewichtigen. So zeigten die übergewichtigen Probanden beim Anblick von Bildern mit süßen Speisen deutlich stärkere Reaktionen im Belohnungsareal des Hirns. Diese Hirnareale sind nicht nur für das Essverhalten verantwortlich, sondern auch für den Erfolg von Diäten. Es liegt nahe, dass diese Menschen dem Anblick von Süßem in der Werbung oder im Supermarkt schlechter widerstehen können. Der Neurologe Dr. med. Burkhard Pleger vom Universitätsklinikums Leipzig bestätigt, dass Hirnregionen, die für Belohnung verantwortlich sind und unser Essverhalten beeinflussen, bei Übergewichtigen anders strukturiert sind als bei Normalgewichtigen. Ob diese Veränderungen allerdings aus den ungünstigen Essgewohnheiten und dem Überessen resultieren oder ob sie vielmehr genetisch veranlagt sind, können die Hirnforscher derzeit noch nicht sagen.

„Ob es tatsächlich besonders gefährdete Menschen gibt, kann aktuell noch nicht abschließend beantwortet werden“, meint auch Dr. Grosshans. „Die Medizin hat viele Aspekte der Adipositas noch nicht vollständig verstanden. Was wir jedoch aus zahlreichen Untersuchungen wissen ist, dass das Risiko, eine Adipositas zu entwickeln, steigt, wenn die Mutter vor der Geburt adipös war.“
Auch die Zusammensetzung der Nahrung in den ersten wichtigen Lebensjahren bis zur Pubertät spielt eine wichtige Rolle. In Tierversuchen sei dies sehr anschaulich zu beobachten. Würden junge und schlanke Mäuse über einen gewissen Zeitraum mit übernatürlich viel Zucker gefüttert, entwickelten sie eine starke Präferenz für Zucker. Sie konsumierten ihn impulsartig und übermäßig und wurden später dickleibig. „Für den Menschen lässt sich daher sagen, dass gerade eine ausgewogene Nahrungszusammensetzung in den ersten Lebensjahren dazu beiträgt, dass die Wahrscheinlichkeit eines hauptsächlich auf Zucker beschränkten Essverhaltens verringert wird“, betont der Mannheimer Forscher.

Suchtbegriff umstritten

Die Bundesbürger essen im Schnitt 100 Gramm Zucker am Tag und da sind gesüßte Getränke noch nicht einmal berücksichtigt. Wie kommt man aus diesem ungünstigen suchtähnlichen Essverhalten wieder heraus? Dazu sagt Dr. Grosshans: „Mit dem Begriff Sucht im Zusammenhang mit Nahrungsaufnahme sollte vorsichtig umgegangen werden, da wir über diese Phänomene beim Essen noch nicht genug wissen. Und Essen ist im Gegensatz zu Alkohol oder Drogen für unser Überleben notwendig.“ Prinzipiell könnten therapeutische Strategien, die erfolgreich bei der Behandlung von klassischen Suchterkrankungen angewandt werden, auch bei Adipositas wirksam sein.

Hierzu gehören beispielsweise verhaltenstherapeutische Techniken, die Motivation bzw. Hinwendung zu bestimmten Suchtreizen behandeln. Dabei wird unter therapeutischer Aufsicht trainiert, wie beim Anblick bestimmter Reize, zum Beispiel einer Bierflasche oder eben einer Tafel Schokolade, alternativ gehandelt werden kann. „Wird dies oft wiederholt, verliert die Erwartung auf eine Belohnung – wie beispielsweise das gute Gefühl beim Austrinken bzw. Aufessen – ihre Wirkung“, erklärt Dr. Grosshans. Das heißt, ob wir nun eindeutig von Sucht sprechen oder nicht, es erfordert im Prinzip die gleichen therapeutsichen Ansätze, um aus einem festgefahrenen, ungünstigen Essverhalten auszusteigen.

Fakt ist, dass eine zu hohe Aufnahme von Zucker und gesüßten Lebensmitteln – insbesondere Getränken – der Gesundheit schaden kann. Der Zuckerkonsum müsste also generell sehr viel stärker eingeschränkt werden. Ob Regierungen eine Art Zuckersteuer erheben oder der Industrie Vorgaben zum Zuckergehalt ihrer Produkte festschreiben sollten, ist umstritten. Dr. Garlichs von der Diabetes Gesellschaft ist überzeugt, dass der Gesetzgeber Vorschriften erlassen sollte, wenn die Hersteller nicht zu Veränderungen bereit sind.

Von klein auf weniger Süßes konsumieren

„Den Zuckerkonsum auf ein sinnvolles Maß einzuschränken, ist sicher eine Aufgabe, die in erster Linie von jedem Menschen selbst verantwortet werden muss“, meint dagegen Dr. Grosshans. Ein staatliches Verbot von Zucker hält er für eher unrealistisch. Viel wichtiger dagegen sei die ausführliche Aufklärung bei Kindern und Jugendlichen, dass zu viel Zucker ungesund ist und ein vernünftiger Umgang mit zuckerreicher Nahrung sehr wichtig ist. „Beachtenswert ist“, so Grosshans weiter, „dass in Japan der Zucker genauso verfügbar ist wie bei uns, er wird nur weniger konsumiert“. Der Anteil von adipösen Menschen ist dort in den vergangenen Jahrzehnten weitgehend stabil geblieben, im Gegensatz zu der Entwicklung in den USA und Europa.

Es bleibt noch viel zu tun, um das japanische Vorbild in unseren Breiten umzusetzen. So lange es allerdings ganze Regalwände voll übersüßter Frühstücksflocken gibt und immer neue Süßgetränke auf den Markt drängen, haben es die Verbraucher nicht leicht. Gute Aufklärung und Beratung bleibt folglich in Zukunft gefragt.

Quelle: UGB-FORUM 3/2013, S. 114-116
Foto: bit24 - Fotolia.com