Abmelden

Der Zugang zu den Fachinformationen exklusiv für Mitglieder und Abonnenten ist jetzt für Sie freigeschaltet.

Nutrigenomik: Gencode fürs Menü

Seit einigen Jahren erforschen Wissenschaftler intensiv das Wechselspiel zwischen Ernährung und unserem Erbgut. Die Vision lautet, auf der Basis einer Genanalyse individuelle Ernährungsempfehlungen geben zu können und so Krankheitsrisiken zu verringern.

Nachdem ein Arbeitskollege mit einem Herzinfarkt zusammenbrach, hat Michael Bertram vor vier Jahren mit dem Rauchen aufgehört. Denn seine Gesundheit liegt ihm sehr am Herzen. Der 42-jährige Bankangestellte ernährt sich mittlerweile bewusst und geht regelmäßig joggen. Doch oft fragt er sich, ob er vielleicht zusätzliche Vitamine braucht, um gesund alt zu werden? Deshalb ist er ganz Ohr, als sein Arzt erklärt, dass sein genetisches Profil darüber Auskunft geben kann. Ein Blutstropfen genüge, um festzustellen, ob auf grund einer angeborenen Abweichung im Erbgut beispielsweise ein erhöhter Bedarf an B-Vitaminen und Folsäure bestehe. Die Kosten von knapp 150 Euro schrecken Herrn Bertram nicht, obwohl noch unklar ist, welche Schlussfolgerungen aus solchen Gentests tatsächlich gezogen werden können.

Gene bestimmen Risiken

Nachdem im Jahr 2003 das menschliche Erbgut vollständig entschlüsselt wurde, haben verschiedene Forschungsdisziplinen den Wert der Gene für ihr jeweiliges Gebiet entdeckt. Der noch junge Forschungszweig der Nutrigenomik befasst sich damit, welche Beziehungen zwischen den individuellen Erbanlagen und ernährungsabhängigen Krankheiten bestehen (siehe Kasten) . Mit Gentests werden Änderungen im Erbgut analysiert und Zusammenhänge zu Krankheitsrisiken aufgestellt. Als Paradebeispiel, wie der Stoffwechsel von einzelnen Genen abhängt, gilt der Gentest bei Herrn Bertram. Hier untersucht das Labor, ob in dem Gen für ein Enzym im Folsäurestoffwechsel eine geringfügige Abweichung vorliegt - ein so genannter SNP (single nucleotide polymorphism, siehe Erklärung). Der Austausch einer einzelnen Base im Gen der Methylen-Tetrahydrofolat-Reduktase (MTHFR) setzt die Enzymaktivität herab, wodurch der Blutspiegel des Zwischenprodukts Homocystein steigt. Wer viel Homocystein im Blut aufweist, besitzt ein erhöhtes Risiko für Arteriosklerose und Thrombose. Die Genveränderung tritt in Europa bei rund zehn Prozent der Bevölkerung homozygot auf. Das bedeutet, die Betroffenen haben von beiden Elternteilen die Anlage für das weniger aktive Enzym geerbt. Das Testergebnis von Michael Bertram zeigt, dass auch er homozygoter Träger des Gendefektes ist. Da folglich die MTHFR bei ihm nur eingeschränkt arbeitet, empfiehlt das untersuchende Labor zusätzliche Gaben von Vitamin B6 und B12 sowie Folsäure, um den Homocysteinspiegel und das Risiko für Arteriosklerose zu verringern.

Neue Forschungsdisziplin

Die Nutrigenomik (deutsche Kurzform für nutritional genomic) ist ein Spezialgebiet der Ernährungsforschung. Sie nutzt Techniken der Genomforschung, um die Wechselbeziehungen zwischen Ernährung und Genen aufzudecken. Einbezogen werden dabei auch die Erforschung aller Proteine (Proteomics) und aller Stoffwechselprodukte (Metabonomics). Denn es reicht nicht aus, nur die vorhandenen Gene zu kennen. Die Nutrigenetik ist ein Teilbereich der Nutrigenomik, der sich damit beschäftigt, wie sich genetische Abweichungen auf den Stoffwechsel (meist Enzymaktivität) und den Nährstoffbedarf auswirken.


Die Wechselwirkungen zwischen Genen und Ernährung sind noch umfangreicher. Zwar bestimmen SNPs, wie funktionstüchtig Enzyme sind, aber auch Inhaltsstoffe aus Lebensmitteln wirken auf unser Erbgut. So können beispielsweise Hyperforin, ein sekundärer Pflanzenstoff im Johanniskraut, Genistein, ein Isoflavon aus Sojabohnen, und sogar Fettsäuren an so genannte Transkriptionsfaktoren binden. Diese fördern oder hemmen das Ablesen der Erbinformationen. Die wechselseitige Beziehung zwischen Genen und Ernährung sowie ihre Auswirkungen auf den Stoffwechsel interessieren Forscher weltweit. Denn wenn ein ehemals gesunder Körper chronische Krankheiten wie Diabetes oder Krebs entwickelt, müssen zuvor Veränderungen beim Übersetzen der genetischen Informationen oder in der Aktivität von Proteinen und Enzymen stattgefunden haben.

Maßgeschneiderte Diät gegen Krankheiten

Mit der Nutrigenomik, so vermuten Biochemiker, Mediziner und Ernährungsforscher, halten sie einen neuen Schlüssel zur Gesundheitsprävention in den Händen. Raymond Rodriguez, Direktor des Center of Excellence in Nutritional Genomics und Professor für Molekularbiologie an der University of California, ist sicher, dass die verfügbaren genetischen Daten den Kampf gegen Krankheiten beschleunigen werden. Individuelle Ernährungsempfehlungen, die auf genetischen Informationen basieren, bieten für ihn die Chance, bestimmte chronische Erkrankungen zu verhindern, zu lindern oder gar zu heilen. Ein Beispiel hierfür sind die unterschiedlichen Reaktionen auf eine salzreduzierte Kost bei Bluthochdruck. So genannte salzsensitive Personen können ihren Blutdruck durch weniger Salz in der Nahrung senken. SNPs könnten die Ursache sein, warum nicht alle Menschen gleichermaßen auf eine salzarme Diät reagieren. Wenn Ärzte über die Genabweichungen ihrer Patienten Bescheid wüssten, so die Vision, könnten sie genau den richtigen Personen von einer salzreichen Kost abraten.

SNPs - kleine Abweichung, große Wirkung

Das genetische Alphabet wird durch vier Basen codiert, deren Abfolge in Proteinbausteine (Aminosäuren) übersetzt wird. Der Austausch einer einzelnen Base im Gencode kann zur Folge haben, dass ein Enzym im Stoffwechsel nicht mehr richtig arbeitet. Genetische Abweichungen, die bei mehr als einem Prozent der Bevölkerung auftauchen, werden als single nucleotide polymorphism (SNP, sprich: "snip") bezeichnet. Wissenschaftler vermuten, dass einige SNPs zu Erkrankungen wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs beitragen können.


Die Nutrigenomik könnte auch erklären, warum Studien, die beispielsweise nach ernährungsbedingten Auslösern für Krebs suchen, oft widersprüchliche Ergebnisse liefern. Wahrscheinlich reagieren die Probanden abhängig von ihrem genetischen Profil unterschiedlich auf die Kostformen. So entwickelt der eine trotz vermeintlich gesunder Ernährung Krebs, ein anderer hingegen nicht. Zusätzlich ließen sich mit den Erkenntnissen der Nutrigenomik möglicherweise neue Biomarker aufdecken, die Krankheitsrisiken anzeigen, bevor Symptome vorhanden sind. Und schließlich wären die gängigen Standardempfehlungen beispielsweise für eine bestimmte Altersgruppe durch individuelle, genbasierte Ratschläge ersetzbar. Abhängig von der genetischen Ausstattung würde dann eine maßgeschneiderte Kost empfohlen, die entsprechend dem persönlichen Risikoprofil Erkrankungen vorbeugen könnte.

Neuer Markt für Gesundheit

Um die Nutrigenomik-Forschung in Europa voranzutreiben, haben sich 23 führende Institutionen zur European Nutrigenomics Organisation (NuGO) vernetzt. Mit dabei sind die Technische Universität München unter Federführung von Prof. Hannelore Daniel und das Deutsche Forschungsinstitut für Ernährung unter Leitung von Prof. Hans-Georg Joost. Die Europäische Union finanziert das Netzwerk mit 17,3 Millionen Euro über eine Zeit von fünf Jahren. Neben dem Ziel, die wissenschaftliche Forschung zu stärken, will NuGO auch die Ernährungsindustrie bei der Entwicklung gesundheitsfördernder Produkte wie Functional Food unterstützen, die passend zu bestimmten Gendefekten mit ausgewählten Nährstoffen angereichert sein könnten. Die Münchner Ernährungswissenschaftlerin Hannelore Daniel erwartet, dass die Erkenntnisse der Nutrigenomik einmal die Basis für innovative, gesundheitsfördernde Produkte bilden könnten.

Noch gibt es auf dem deutschen Markt keine Lebensmittel, die auf bestimmte genetische Profile ausgerichtet sind. Auch wer in Apotheken nach Gentests fragt, wird nicht fündig. Doch ein Blick nach Amerika zeigt, dass sich schon jetzt mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen Geld verdienen lässt. Im Internet werden Testpakete angeboten, mit denen sich angeblich Risiken für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Osteoporose oder Insulinresistenz aufdecken lassen. Die Preise liegen zwischen 150 und 400 US-Dollar und umfassen neben dem Testergebnis auch individualisierte Empfehlungen. Dazu passend sind bereits Bücher wie "Ernähre deine Gene richtig" erschienen, die Hintergründe und Visionen der Nutrigenomik erklären und für eine maßgeschneiderte Ernährung plädieren. Findige Firmen scheinen gesundheitsbewusste US-Bürger als Zielgruppe für eine Marktlücke entdeckt zu haben. In Deutschland gibt es gezielte Gentests nur über Ärzte, die mit spezialisierten Laboren zusammenarbeiten.

Warnungen aus der Wissenschaft

Selbst Wissenschaftler, die das Wechselspiel zwischen Ernährung und Genen erforschen, mahnen zur Vorsicht. Bislang erlaubten die Forschungsergebnisse noch keine persönlichen Ernährungsempfehlungen durch genetische Tests. Dr. Gisela Olias, Pressesprecherin des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung (DIfE), stellt klar, dass es sich derzeit nur um epidemiologische Studien handelt. Diese decken Genveränderungen an Bevölkerungsgruppen auf und beobachten das Auftreten von Krankheiten. Klare Ursache-Wirkungsbeziehungen untersuchen sie nicht. "Hierfür wären Interventionsstudien nötig. Die sind allerdings teuer und nicht immer praktikabel," begründet Dr. Olias die noch unvollständige Datenlage. Zur Zeit liegen nicht genug Beweise vor, dass Ernährungsumstellungen genbedingte Risiken für chronische Erkrankungen reduzieren können. Ernährungsempfehlungen, die auf der Basis von Gentest ausgesprochen werden, fallen daher wenig spektakulär aus. Sie ähneln den allgemeinen Empfehlungen: viel Obst und Gemüse, mehr Vollkorn und weniger zuckerreiche Speisen.Um sein persönliches Risiko für Diabetes oder Herzinfarkt zu erkennen, sind Gentests eigentlich unnötig, schreibt Prof. Joost, Leiter des DIfE, in einem Artikel im Deutschen Ärzteblatt. Es gebe auch jetzt schon Möglichkeiten, Krankheitsrisiken aufzudecken und ihnen im Vorfeld zu begegnen. Ein Besuch beim Hausarzt, der sich in einem Gespräch über klassische Risikofaktoren und die Familiengeschichte informiert sowie bei Bedarf Blutparameter analysiert, koste weniger und sei zudem oft aufschlussreicher als die bisher angebotenen Gentests.

Ein weiteres Problem ist die Komplexität im Wechselspiel zwischen Ernährung und Erbgut. Jedes Lebensmittel liefert eine Fülle an verschiedenen Molekülen, die vom Organismus aufgenommen und verstoffwechselt werden. "Es ist nicht auszuschließen, dass einzelne Inhaltsstoffe unentdeckte Nebeneffekte besitzen, denn nicht alle Wirkungen sind bekannt", gibt Dr. Olias zu bedenken. Als Beispiel verweist sie auf Erfahrungen mit Beta-Carotin aus Nahrungsergänzungsmitteln. Zuerst als Schutz vor oxidativem Stress gepriesen, entpuppten sie sich als Gesundheitsgefahr für Raucher. Auf einen weiteren Aspekt macht Olias ebenfalls aufmerksam. An der Krankheitsentstehung sind nicht nur ein Gen und nicht nur ein SNP beteiligt. Niemand weiß bislang, welche Gene sich wie beeinflussen. Abweichungen in Genen können in Bezug auf eine Erkrankung ein Risiko darstellen und zugleich vor anderen Krankheiten schützen. So geht die Genabweichung in der MTHFR, die bei Michael Bertram festgestellt wurde, nicht nur mit einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen einher. Etliche Studien konnten zeigen, dass gerade Personen mit diesem SNP seltener an Dickdarmkrebs erkranken.

Umgang mit sensiblen Daten unklar

Bedenken kommen zusätzlich aus einer anderen Richtung. Monika Feuerlein, Mitarbeiterin im kritischen Gen-ethischen Netzwerk wendet ein, dass mit Hilfe von Gentests Personen in ganz neue Gesundheitskategorien eingeteilt werden könnten. Durch die genetischen Tests gebe es neben Gesunden und Kranken auch Noch-nicht-Kranke, die aber die genetische Anlage haben, krank zu werden. "Und das ausschließlich auf der Basis von statistischen Wahrscheinlichkeiten, die nur angeben, wie stark der Zusammenhang zwischen Genveränderungen und Erkrankungen ist", kritisiert Feuerlein. Gerade Personen mit einem ungünstigen genetischen Profil könnten durch Arbeitgeber oder Versicherer diskriminiert werden, warnt Feuerlein. Bereits heute ist es gängige Praxis, beim Abschluss von privaten Versicherungen - beispielsweise zur Berufsunfähigkeit - Erkrankungen mitteilen zu müssen. Versicherer argumentieren, dass ihnen zum Abschätzen von Risiken keine Informationen vorenthalten werden dürfen. Rechtliche Grundlagen, mit denen mögliche genetische Benachteiligungen ausgeschlossen werden können, gibt es bislang noch nicht.

Die Nutrigenomik eröffnet der Wissenschaft neue Einblicke in das molekulare Geschehen unseres Körpers. Das ist spannend und interessant - aber noch völlig ungeeignet, um Hoffnungen auf ein längeres und gesünderes Leben zu wecken. Da es zu viel Unbekanntes und keinen Schutz vor dem Missbrauch der Daten gibt, ist für den privaten Gebrauch von Gentests vorerst abzuraten. Wer sein Schicksal in die Hand nehmen und künftig gesund bleiben möchte, sollte daher besser auf die gängigen Empfehlungen bauen. Auch für Michael Bertram ist es sicher ratsamer, seinen gesamten Lebens- und Ernährungsstil gesund zu gestalten und nicht nur auf bestimmte Vitamingaben zu setzen.

Quelle: Rehrmann, N.: UGB-Forum 3/06 S. 140-143