Wie gesund ist roh-vegan?

Unverarbeitet, rein pflanzlich, ohne Zusatzstoffe – und vor allem roh. In den sozialen Medien scheint die vegane Rohkost-Ernährung derzeit voll im Trend zu liegen. Der Hashtag #rawvegan liefert bei Instagram fast vier Millionen Treffer. Die Anhänger schwören auf den Gesundheitsfaktor dieser speziellen Ernährungsweise.

Die Varianten einer rohköstlichen Ernährung sind breit gefächert, eine feste Definition gibt es nicht. So werden tierische Produkte wie Fleisch, Fisch und Milch nicht zwingend ausgeschlossen – sofern sie nicht erhitzt sind. Die meisten Rohköstler:innen ernähren sich jedoch überwiegend vegetarisch oder vegan. Der roh-vegane Lebensstil umfasst neben der rein pflanzlichen Ernährung die überwiegende oder ausschließliche Verwendung roher, also unerhitzter Lebensmittel. Das heißt, es kommen kein Brot, keine Hülsenfrüchte, keine Pasta, kein Reis, keine Kartoffeln auf den Tisch. Wer es genau nimmt, verzichtet auch auf Nüsse, Kakao, Trockenfrüchte und andere Lebensmittel, die bei der Verarbeitung erhitzt worden sind. Ratgeber, Blogs und Influencer in den sozialen Medien empfehlen häufig einen Mix aus rohen und einem geringen Anteil erhitzter Speisen. Bei der Rohkost-Variante raw till four ist zum Beispiel ein gegartes Abendessen nach vier Uhr nachmittags vorgesehen...

42-Grad-Grenze – Vitamine ade?

Eine ungeschriebene Regel lautet, dass die rohen Lebensmittel grundsätzlich nicht über 42 Grad Celsius erhitzt werden sollten. Befürworter der Rohkost-Ernährung plädieren für die Grenze, da höhere Temperaturen hitzeempfindliche Vitamine wie Vitamin C, B1 und B5 sowie sekundäre Pflanzenstoffe angeblich zerstören. Mineralstoffe wie Kalium gingen beim Kochen ins Wasser verloren. Früher wurde auch argumentiert, dass die Proteine ab 42 Grad Celsius denaturieren, also in ihre Bausteine, die Aminosäuren, zerlegt werden. Zudem können bei höheren Temperaturen toxische Verbindungen entstehen wie Acrylamid oder Advandced Glycation Endproducts (AGEs, siehe S. 36).

Tatsächlich nimmt beim Kochen der Gehalt empfindlicher Vitamine und Mineralstoffe ab. Bei schonendem Garen wie Dämpfen, Blanchieren oder Kochen mit wenig Wasser geht aber nur ein gewisser Teil verloren. Bei manchen Vitaminen wie Provitamin A in Paprika oder Karotten und sekundären Pflanzenstoffen wie Lykopin in Tomaten macht allerdings das Erhitzen die Nährstoffe sogar besser verfügbar. So stellte eine Studie von 2008 eine deutlich verminderte Lykopinaufnahme bei strenger Rohkost fest.

Die kritische Betrachtung des Denaturierungsprozesses von Proteinen durch Hitze ist längst widerlegt. Denn auch beim Verdauungsprozess werden Proteine durch die Magensäure denaturiert. Übrig bleiben in beiden Fällen ernährungsphysiologisch wertvolle Aminosäuren, die dann als Bausteine für die Synthese körpereigener Proteine zur Verfügung stehen.

Kreativität gefragt

Auf dem roh-veganen Speiseplan stehen hauptsächlich Gemüse, Obst, Säfte, Getreide, gekeimte Hülsenfrüchte, Nüsse und Samen sowie pflanzliche Fette. Da industriell hergestellte Produkte wie Säfte oder Haferflocken oft durch Erhitzen haltbar gemacht sind, heißt es für Rohköstler hier: selbst machen. Mixer, Keimgerät und Getreidequetsche sind dabei nützliche Küchenhelfer. Um dabei die Empfehlungen für eine ausreichende Nährstoffaufnahme zu erreichen, ist Kreativität gefragt: Dörren, Keimen und Fermentieren erweitern das Nahrungsangebot. So leiten Rohkostrezepte dazu an, mit geringer Hitze Brot aus Samen zuzubereiten, Gemüse und Mehlen zu dörren, Hülsenfrüchte zu keimen und Gemüse mit darmgesunden Milchsäurebakterien zu fermentieren.

Getreide und Hülsenfrüchte sollen bei roh-veganer Ernährungsweise als Proteinquellen dienen. Allerdings ist der Verzehr in unerhitzter Form wegen der enthaltenen antinutritiven Inhaltsstoffe wie Trypsininhibitoren oder Lektine (Hämagglutinine) nur in begrenzten Mengen möglich. Durch Keimen wird zwar ein Teil der Substanzen abgebaut. Doch spielen Keimlinge aufgrund der geringen Verzehrsmenge keine Rolle für die Proteinversorgung bei roh-veganer Ernährung.

Weniger Energie und Proteine

Bei einer rein pflanzlichen Kost gelten Vitamin B12, Calcium und Jod als kritische Nährstoffe. Bei einer ausschließlich rohen Ernährung ist zudem die ausreichende Versorgung mit Protein und Energie schwer zu erreichen. So berichtete die Gießener Rohkoststudie bereits 1998 von einem unterdurchschnittlichen Körpergewicht bei strenger Rohkosternährung. 15 Prozent der 94 untersuchten Männer und ein Viertel der 107 Frauen waren untergewichtig. Eine kleinere Studie von 2022 bestätigt diese Tendenz. Zudem wies in der Gießener Studie fast jede dritte Frau unter 45 Jahren eine teilweise oder vollständige ausbleibende Regelblutung auf, ein sehr deutliches Alarmsignal für Unterversorgung und Untergewicht. Die Forscher:innen raten deshalb von einer strengen Rohkosternährung als Dauerkost ab. Das gilt insbesondere für Risikogruppen wie Schwangere, Kinder und Senior:innen.

Die Gießener Untersuchung gilt heute noch als Vorzeigestudie zu Fragen der Rohkosternährung. Denn bis dato sieht die wissenschaftliche Studienlage eher mau aus. Oft sind in den wenigen Forschungsarbeiten nur wenige Teilnehmer:innen eingeschlossen, was die Aussagekraft mindert. Die Gießener Rohkoststudie ist mit 201 Teilnehmer:innen die größte Untersuchung weltweit. Von diesen Rohköstler:innen ernährten sich etwa ein Fünftel vegan. Der Rest schloss Rohmilch, rohen Fisch oder rohes Fleisch in die Ernährung mit ein. Der Anteil der roh verzehrten Lebensmittel lag bei mindestens 70 Prozent, bei etwa drei Viertel der Untersuchten sogar bei mehr als 90 Prozent. In dieser und anderen kleineren Studien konnten günstige Blutwerte für Gesamtcholesterin und LDL festgestellt werden. Eine US-amerikanische Studie von 2007 ermittelte bei 21 veganen Rohköstler:innen ebenfalls niedrige Blutzucker- und Blutdruckwerte. Die Gießener Rohkost-Studie konnte im Gegensatz zu den kleineren Untersuchungen einen Zusammenhang zwischen dem Anteil an ungekochten Lebensmitteln und den günstigen Blutwerten nachweisen.

Vollwert: etwa die Hälfte Rohkost

Die Vollwert-Ernährung empfiehlt etwa die Hälfte der Nahrung als unerhitzte pflanzliche Frischkost. Denn ein gewisser Anteil an Rohkost hat nachweislich gesundheitlich positive Auswirkungen. Neben dem Erhalt wertvoller Mikronährstoffe und der hohen Zufuhr an Ballaststoffen sind auch die Effekte auf die mikrobielle Besiedlung des Darms und die Regulation des Körpergewichts als günstig zu bewerten. Als wissenschaftlich gesichert gilt zudem, dass eine überwiegend pflanzliche Ernährungsweise vor vielen ernährungsabhängigen Erkrankungen wie Übergewicht, Bluthochdruck und sogar Krebs schützt. Eine komplett roh-vegane Ernährung scheint hier keine zusätzlichen Vorteile für die Gesundheit zu bieten, sondern birgt viel mehr Risiken für eine Mangelernährung, insbesondere eine unzureichende Energie- und Proteinversorgung.

Bild © Garsya/depositohotos.com; Markus Mainka/stock.adobe.com

Stichworte: Roh-Vegane-Ernährung, Rohkost, Vegane Ernährung, Vitaminverluste, Unerhitzte Lebensmittel, Vitamin B12, Vollwert-Ernährung, Mangelernährung


Vollwert-Ernährung –  aktuell wie nie Dieser Beitrag ist erschienen in:
UGBforum 1/2023
Vollwert-Ernährung – aktuell wie nie


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