Ernährungsberatung: Genießen als Therapie

Ein Genusstraining hilft dabei, die Seele mit regelmäßigen Momenten der Sinnesfreude aufzutanken. Im Zentrum steht das Erlernen einer selbstfürsorglichen Haltung. Das Genießenlernen fördert zudem ein gesundes Essverhalten und erleichtert es, Essgewohnheiten zu ändern.

Genuss ist eine positive Sinneserfahrung, die mit Wohlbefinden verknüpft ist. Dieses gute Gefühl ist individuell und kann Freude, Lust, Harmonie, Glück, Geborgenheit oder innere Ruhe bedeuten. Genießen heißt, sich selbst über die Wahrnehmung angenehmer Dinge oder Aktivitäten ein positives Gefühl zu verschaffen. Das erfordert gut geschulte Sinne und einen bewussten Umgang mit allem, was gut tut.

Genuss will gelernt sein

Das wohltuende Erlebnis wie ein Entspannungsbad oder der Spaziergang werden im Alltag oft aufgeschoben, ignoriert oder hinterher mit schlechtem Gewissen quittiert. Stress und permanente Überlastung führen zu vielen genussfreien Zeiten. Dadurch stumpfen die Sinne ab, die Tür zum positiven Erleben verschließt sich und der Bezug zu genüsslichen Aktivitäten geht verloren. Die alleinige Aufforderung zum Genießen reicht deshalb bei vielen Menschen nicht aus, um die Genussfähigkeit auf Knopfdruck wieder zu aktivieren.

Ein großes Hindernis beim Genießen stellt auch die innere Einstellung in Form von Genussverboten dar. Unbewusst formulierte Glaubenssätze wie, „erst die Arbeit, dann das Vergnügen“, verderben den Genuss. Wer ständig oder immer wieder auf Diät lebt, versagt sich selbst die kleinsten Genussmomente, weil sie nicht in den strengen Diätplan passen. Dabei bräuchten gerade solche Menschen eine große Portion Selbstfürsorge. Genießen benötigt die unbedingte Erlaubnis, sich etwas Gutes zu tun. Der Weg zum Genussempfinden lässt sich durch professionelle Anleitung zur Sensibilisierung der Sinne neu anbahnen oder wiederfinden.

Euthyme Therapie

Ein Genusstraining, auch euthyme Therapie genannt, ist ein verhaltenstherapeutisch orientierter Behandlungsansatz. Euthym bedeutet: „Was der Seele gut tut.“ Ursprünglich für die Therapie bei Depressionen entwickelt, kommt das euthyme Konzept seit vielen Jahren bei Menschen mit unterschiedlichen Krankheiten zum Einsatz, vor allem im psychotherapeutischen Bereich. Als Baustein in Kursen zur Stressbewältigung und in der Gesundheitsförderung trägt Genusstraining dazu bei, die Lebensqualität und -zufriedenheit zu steigern. Euthymes Verhalten kann vom Wandern im Watt über Gartenarbeit bis hin zum gemeinsamen Kochen oder Betrachten der Urlaubsfotos alles sein, was Freude macht. Das bekannteste Therapieprogramm für ein Genusstraining ist „Die kleine Schule des Genießens“ aus dem Jahr 1983 der Psychologen Rainer Lutz und Eva Koppenhöfer.

Selbstfürsorge als Leitmotiv

Ziel des Genusstrainings ist, dass die Teilnehmenden, unabhängig von vorliegenden Erkrankungen, selbst ein positives Erleben und Verhalten aufbauen können. Im Lehrplan steht die Selbstfürsorge an oberster Stelle. Dafür gehen sie im Genusstraining mit allen Sinnen auf Entdeckungsreise nach dem, was bei ihnen ein gutes Gefühl auslöst. Sie lernen, sich Genuss zu erlauben, die eigenen Bedürfnisse zu berücksichtigen und sich eigenverantwortlich und autonom um ihr Wohlbefinden und ein gutes Leben zu kümmern. Dadurch vergrößert sich der Handlungsspielraum, um tägliche Herausforderungen zu bewältigen und Belastungen auszugleichen.

Eine positive Stimmungslage erleichtert den Teilnehmenden, handlungsfähig und kreativ zu bleiben sowie offener zu werden für die Strategien, die in der Beratung besprochen werden. Im Genusstraining machen sie die Erfahrung, dass ihr Leben nicht vorwiegend aus Misserfolgen und Belastungen besteht, sondern sie selbst etwas Positives bewirken können. Dadurch wachsen nicht nur Zuversicht und Mut in das eigene Handeln. Es erhöht sich auch die Bereitschaft, aktiv für das eigene Wohlbefinden tätig zu werden.

Innere Bilder zum Genuss

Das Genusstraining wurde als Gruppenprogramm entwickelt. Es eignet sich aber auch für die Einzelberatung und als Online-Schulung. In einer festgelegten Reihenfolge werden mit speziellen Übungen alle fünf Sinne geschult. Die Teilnehmenden experimentieren mit einer Fülle an Genussmaterialien und lenken ihre Aufmerksamkeit bewusst auf die sinnlich erfahrbaren positiven Reize eines Objekts, zum Beispiel eines Lavendelsäckchens. Durch die Wahrnehmung schöner Dinge oder Ereignisse entsteht fast automatisch ein gutes Gefühl. Um den Eindruck zu vertiefen, hält man inne und folgt den auftauchenden inneren Bildern in diesem besonderen Moment. So führt der Duft einer Zimtstange in die Küche der Großmutter, die dort den leckeren Milchreis kocht, oder zu den farbenfrohen Buden mit leuchtenden Sternen zum Weihnachtsmarkt. Da negative Gedanken und Empfindungen während des Genussmoments bewusst ausgeblendet werden, kann sich Wohlbefinden ausbreiten.

Weitere Auslöser für positive Emotionen finden sich an Wohlfühlorten und in Beziehungen. Auch ermunternde Gedanken, ein spannendes Buch oder eine herzliche Umarmung zählen dazu. Im Laufe des Genusstrainings sammeln die Teilnehmenden viele Ideen für ihre persönlichen Genussquellen, die sie dann in ihr imaginäres Genuss-Rucksäckchen stecken. So können sie sich immer und überall ein gutes Gefühl verschaffen.

Essen mit allen Sinnen

Euthyme Verfahren sind abzugrenzen vom Konzept des achtsamen Essens. Die Schulung der Sinne spielt zwar in beiden Ansätzen eine große Rolle. Beim achtsamen Essen geht es aber um das bewertungsfreie Beobachten aller Sinneseindrücke im gegenwärtigen Moment. Ziel ist vorwiegend, sich das Essverhalten bewusst zu machen. Im Genusstraining richtet man den Blick dagegen gezielt auf das Gute eines einzigen Genussobjekts, beispielsweise die Farbe eines rotbackigen Apfels, und kostet diesen speziellen Moment intensiv aus.

Das Erlernen einer selbstfürsorglichen Haltung sowie der Fähigkeit, sich selbst in eine positive Stimmung versetzen zu können, steht im Zentrum des Genusstrainings. Beides ist nötig, um eine gesunde, wohltuende Ernährung zu gestalten und um das Essverhalten erfolgreich und dauerhaft zu verändern. Wer die tägliche Ernährung über viele Jahre einem Diätplan unterwirft, im Stress oft unbewusst und viel zu schnell isst oder zur Beruhigung gedankenlos nascht, weiß häufig gar nicht, was ihm wirklich schmeckt und gut bekommt. Diese Menschen müssen erst wieder erkunden, was ihnen echten Genuss bereitet. Beim Einkaufen, Kochen und Essen mit gut geschulten Sinnen unterwegs zu sein, bringt neue Erkenntnisse, vergrößert die Auswahl der Lebensmittel und intensiviert die Geschmacksqualitäten. Eine angenehme Esssituation bietet für sich genommen bereits eine Quelle an Genüsslichkeiten.

Blick auf das Gute richten

Emotionalen und Stressessern hilft das Genusstraining, weil sie dort lernen, ihre Gefühle auch ohne Lebensmittel regulieren zu können. Sie üben sich darin, den Blick auf das Gute zu richten und gleichzeitig ständig kreisende Gedanken ums Essen und die Angst, mit dem Essen nicht aufhören zu können, auszublenden. Genießen mit gutem Gewissen und eine verbesserte Beziehung zu sich selbst und den bisher verbotenen Lebensmitteln führen von der rigiden zur entspannteren und flexiblen Kontrolle des Essverhaltens. Bei den Übungen zum Geschmackssinn wird der Schwerpunkt auf lustvolles, sinnliches Essen gelegt statt auf das Zählen von Kalorien. Das stoppt die automatisierten Gedanken an Fett- und Energiegehalte, die intern ablaufen und oft sehr beunruhigen.

Vorfreude als Schutzfaktor

Genießen zu können verbessert die Fähigkeit, sich auf einen Gaumenschmaus zu freuen und Ess-Bedürfnisse nicht unmittelbar zu befriedigen. Man geht den Essgelüsten nicht sofort nach, sondern kann das Warten aushalten. Die Vorfreude auf diesen besonderen Moment, in dem in Ruhe und mit Muße eine kleine Portion verspeist wird, ist der eigentliche Genussmoment. Dieser sogenannte Belohnungsaufschub erhöht die Impulskontrolle, weshalb Essanfälle und Heißhungerattacken bei genussfähigen Menschen eher selten vorkommen.

Kleine Motivationslöcher während der Änderung des Essverhaltens tauchen meistens auf, wenn die Stimmung sinkt und dadurch die Willenskraft nachlässt. Genussfähigkeit zählt deshalb auch zu den wichtigen Stellschrauben bei der dauerhaften Motivation. Denn mithilfe von Genussmomenten kann man gegensteuern und die Motivationslöcher leichter überspringen. Genussfähigkeit reduziert Rückfälle in alte Essgewohnheiten und verbessert das Durchhaltevermögen. Denn die Teilnehmenden werden darin geschult, den Blick nach vorne zu richten und weniger das eigene Versagen in den Fokus rücken.

Gut essen ist Selbstfürsorge

Das oberste Ziel im Genusstraining ist die Förderung der Selbstfürsorge. Sich gut um sich selbst zu kümmern, sich Gutes tun und achtsam auf die eigenen Bedürfnisse zu schauen, das betrifft auch die tägliche Ernährung. Das Genusstraining sollte deshalb in jeder Ernährungsberatung einen festen Platz erhalten. Von positiven Gefühlen und Genuss mit gutem Gewissen profitieren auch die Beratungskräfte selbst, denn „wer nicht genießt, wird ungenießbar.“

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Stichworte: Ernährungsberatung, Genuss, Euthyme Therapie, Essverhalten, Genusstraining, emotionales Essen, Stressesser, Selbstfürsorge, Genussquellen, achtsames Essen, Sinne


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UGBforum 1/2022
Voller Genuss – nutzt Mensch und Umwelt


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