Endokrine Disruptoren: Umweltsubstanzen mit Hormonwirkung

Schon seit mehr als 50 Jahren beobachten Wissenschaftler eine schleichende Verweiblichung von männlichen Organismen. Tatsächlich werden heute prozentual geringfügig weniger Jungen geboren als Mädchen und die Zahl der Spermien nimmt bei Männern immer mehr ab. Toxikologen haben hormonwirksame Substanzen aus der Umwelt als Ursache in Verdacht.

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Rund 15 Prozent aller Paare in Deutschland sind ungewollt kinderlos. Die Ursachen für Kinderlosigkeit verteilen sich mit jeweils 30-40 Prozent gleichermaßen auf Mann und Frau. Die Diskussion um die Hintergründe bringt Umweltsubstanzen mit hormoneller Wirkung immer wieder in die Schlagzeilen. Wissenschaftler sprechen von endokrinen Disruptoren: eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Stoffen, die das Hormonsystem von Organismen verändern und dadurch möglicherweise die Gesundheit schädigen. Vertreter findet man unter anderem bei Pestiziden und Fungiziden, Holz- und Vorratsschutzmitteln, Komponenten von Kunststoffen und Verpackungsmaterial. Doch endokrin wirksame Substanzen sind auch unter den natürlich vorkommenden Inhaltsstoffen von pflanzlichen und tierischen Lebensmitteln zu finden. Sogar im Bier stecken sie. Aber es denkt wohl kaum ein männlicher Liebhaber des Gerstensaftes daran, dass sein Busenansatz möglicherweise von hormonellen Inhaltsstoffen herrühren könnte.

Am Anfang stand DDT

Ende der 1940er Jahre wurden Wissenschaftler erstmals darauf aufmerksam, dass eine industriell eingesetzte Chemikalie wie ein Hormon wirken kann. Anlass war die ungewollte Kinderlosigkeit von Piloten, die das Pestizid DDT versprüht hatten. DDT wirkt ähnlich wie Östrogene, also die weiblichen Sexualhormone, auf das Hormonsystem. 30 Jahre später setzte der Chemieunfall von Seveso ein Dioxinderivat frei. In den folgenden Jahren zeugten Männer, die dem Gift besonders stark ausgesetzt gewesen waren, ganz überwiegend Mädchen. Heute ist etwa jedes siebte Paar in Deutschland ungewollt kinderlos, ohne dass die Ursache geklärt werden kann. Parallel dazu hat sich das Verhältnis von männlichen und weiblichen Geburten verändert. Es werden rund 0,5 Prozent weniger Jungen geboren als 1946.

Föten und Kleinkinder besonders sensibel

Hormone werden als Botenstoffe in die Blutbahn abgegeben. Rezeptoren nehmen ihr Signal entgegen und geben es an die Zellen in den Zielorganen weiter. An eben diesen Rezeptoren können nun hormonell wirksame Stoffe andocken und die Wirkung des richtigen Hormons steigern oder blockieren. Der Wirkungsgrad ist jedoch in der Regel deutlich schwächer – zum Teil um den Faktor 1000.

Besonders gravierend sind die Folgen von Störungen an den Rezeptoren für Geschlechtshormone, männlichen Androgenen und weiblichen Östrogenen. Aufgrund der verschiedenen Rezeptorfunktionen können bestimmte Umweltsubstanzen die Gentranskription beeinflussen, also den Prozess, der darüber entscheidet, ob eine Erbinformation abgelesen wird oder nicht. Besonders empfänglich für derlei Störungen sind Ungeborene im Mutterleib, Kleinkinder sowie Menschen in den hormonellen Umbruchsituationen Pubertät und Wechseljahren.

Enormer Forschungsbedarf

Für Forscher ist die eindeutige Zuordnung von Ursache und Wirkung oft sehr schwierig. Fakt ist, dass ein ganzer Cocktail von Substanzen aus Lebensmitteln und der Umwelt auf uns einwirkt. Das Problem: Die Wissenschaft kennt weder alle Einzelsubstanzen noch lassen sich die Wechselwirkungen der Verbindungen untereinander abschließend beurteilen. Diskutiert wird, ob es für einige Substanzen keinen ungefährlichen Dosisbereich gibt und es gerade die minimalen Dosen sind, die die größten Schäden verursachen (Low Dose Impact). Ebenso unklar ist, welche Dosis im Organismus überhaupt ankommt. Denn abhängig vom Zustand der Darmflora können unterschiedlich große Mengen der Phytoöstrogene aus der Gruppe der Isoflavone und Lignane gespalten und aufgenommen werden. Synergistische, also sich verstärkende Wechselwirkungen zwischen Umwelthormonen und Lebensmitteln mit Hormonwirkung sind gleichfalls nicht erforscht. Eines ist jedoch klar, und das macht die bestehende Unwissenheit so schwerwiegend: Unter den Umweltkontaminanten gibt es viele langlebige, so dass uns das Problem wohl noch lange erhalten bleiben wird.

Lebensmittel mit Hormonwirkung

Tierische Lebensmittel sind in den seltensten Fällen komplett hormonfrei. So enthalten Eier und Milch immer Spuren der natürlichen Östrogene des Huhns beziehungsweise der Kuh, egal ob bio oder konventionell. Bei der Milch wird der Östrogengehalt davon beeinflusst, ob die Kuh trächtig ist und in welchem Stadium der Trächtigkeit sie sich befindet. Milch aus intensivierter konventioneller Landwirtschaft enthält häufig mehr Östrogene als Biomilch. Ein hoher Konsum an Eiern, Milch, Fleisch und Wurstwaren ist daher immer mit einer gesteigerten Hormonaufnahme verbunden. Eine verstärkte Brustentwicklung beim Mann kann die Folge sein, zusätzlich gefördert durch häufig gleichzeitig vorliegendes Übergewicht. Auch Cadmium zeigt eine östrogene Wirkung. Das Schwermetall kann sich aus belastetem Meerwasser in Muscheln und Schalentieren anreichern. Die Leber weist als zentrales Entgiftungsorgan ebenfalls höhere Cadmiumgehalte auf. Aus dem Boden reichert es sich aber auch in Pilzen, Leinsamen und etlichen anderen Nahrungspflanzen an, so dass bei Vegetariern erhöhte Cadmiumspiegel keine Seltenheit sind.

Fetthaltige Lebensmittel wie Milch, Milchprodukte, Wurst und andere tierische Lebensmittel können zudem mit hormonell wirksamen Substanzen aus der Verpackung belastet sein. Sie sind in den Bausteinen oder Zusatzstoffen von Kunststoffen enthalten und gehen in fetthaltige Lebensmittel über. Bisphenol A und die Phthalate werden hier am kritischsten gesehen. Bisphenol A ist Grundstoff des Kunststoffs Polycarbonat, der zum Beispiel für Trinkgefäße oder die Beschichtung von Konservendosen verwendet wird. Phthalate sind Weichmacher und etwa in Dichtungen von Twist-off-Deckeln zu finden. Der Nachweis von Ursache und Wirkung ist auch hier problematisch. Es gibt kein allgemein akzeptiertes Verfahren, dass die endokrine Wirkung von Substanzen in Verpackungsmaterialien oder anderen Bedarfsgegenständen belegen könnte. Eine gestörte Testosteronsynthese unter dem Einfluss von Phthalaten lässt sich zwar im Tierversuch zeigen, aber nicht auf den Menschen übertragen. Gleichwohl erschien Bisphenol A europäischen Behörden riskant genug, um ein EU-weites Verbot in Babyfläschchen in diesem Jahr zu verhängen.

Wasser mit hormoneller Wirkung?

Auch in Mineralwässern finden sich östrogenwirksame Verbindungen. Die Konzentration liegt im zweistelligen Nanogrammbereich pro Liter. Das ist eine verschwindend geringe Menge im Vergleich zur Aufnahme über tierische Lebensmittel. Sie liegt aber in derselben Größenordnung wie die Belastung von Flüssen und Seen mit Rückständen aus der Antibabypille, die ausreicht, um zur Verweiblichung der Fischbestände zu führen. Es ist nicht abschließend geklärt, wie die hormonell aktiven Verbindungen ins Mineralwasser gelangen, sei es aus der Quelle, der Flasche dem Verschluss oder auf einem anderen unbekannten Weg. Eine Studie, die von der Wirkung auf Schnecken auf die Anwesenheit von endogenen Disruptoren schließt und eine erhöhte hormonelle Aktivität von Mineralwasser aus PET-Flaschen feststellte, ist wegen methodischer Schwächen umstritten. Ob eine derart minimale Aufnahme bestimmter endogenen Disruptoren schädlicher ist als eine mittlere Aufnahme, wird zurzeit kontrovers diskutiert.

Pflanzenhormone in der Debatte

In vielen Pflanzen, insbesondere in Hülsenfrüchten, kommen natürlicherweise Phytoöstrogene vor (siehe Tabelle). Diese schützen die Pflanze vor Frassfeinden. Die wichtigsten Vertreter sind Isoflavone und Lignane. Über Soja können Isoflavone im Grammbereich aufgenommen werden. Die Bohnen sind reich an den Isoflavonen Genestein, Daidzein und Coumestrol, die zur großen Gruppe der Polyphenole zählen.
Phytoöstrogene wirken sich positiv auf den Verlauf von Osteoporose aus, können unter bestimmten Umständen Wechseljahresbeschwerden mildern, wirken krebsvorbeugend und antioxidativ. Allerdings verläuft hier ein schmaler Grat zwischen gesundheitsfördernden Eigenschaften und möglichen negativen Effekten. So verlängerte sich die Menstruation bei westlichen Frauen, die über vier Wochen täglich 60 Gramm Soja in Form von Sojaschnetzeln oder anderem texturierten vegetarischem Protein (TVP) aßen. Dieser Effekt wurde auch beim täglichen Verzehr von 40 Gramm Leinsamen über sechs Wochen beobachtet. Ursache ist hier die östrogene Wirkung der enthaltenen Lignane.

Für Tiere ist die Wirkung von Genestein, Coumestrol und anderen Isoflavonen auf die Fortpflanzung belegt. In den 1950er Jahren beob­achteten Schafzüchter in Australien, dass ihre Schafe auffällig öfter unfruchtbar blieben, wenn sie viel isoflavonhaltigen Rotklee gefressen hatten.
Coumestrol ist in größeren Mengen in Klee und Soja enthalten, in geringeren Mengen in Hülsenfrüchten, Spinat und Rosenkohl. Andere pflanzliche Lebensmittel mit östrogenem Potenzial stehen seltener und in geringeren Mengen auf dem Speisezettel wie Salbei, Granatapfel, Distelöl oder Kürbiskernöl. Je nach Konsumgewohnheiten können auch Bier oder Wein eine bedeutende Menge an östrogenwirksamen Substanzen liefern. Denn durch Fermentation (z. B. bei Getränken) oder die Keimung von Hülsenfrüchten kann der Gehalt an Phytoöstrogenen steigen und sich deren Bioverfügbarkeit erhöhen.

Pflanzenhormone in Lebensmitteln

LebensmittelPhytoöstrogene
Sojamehl656-1681 µg/g
Sojabohnen1294 µg/g
Leinsamen675-808 µg/g
Tempeh513 µg/g
Sojaflocken366-501 µg/g
Sojapaste336 µg/g
Tofu257 µg/g
Schälerbsen81 µg/g
Alfalfasprossen51 µg/g
Linsen (getrocknet)18 µg/g
Kichererbsen (getrocknet)15 µg/g
Weizen5 µg/g
Haferflocken2 µg/g

Keine Sojadrinks für Säuglinge

Genau hinschauen sollte man bei Lebensmitteln für empfindliche Organismen, ob der natürliche Isoflavongehalt womöglich nicht des Guten zu viel ist. Säuglinge und Kleinkinder haben nur sehr niedrige Östrogenspiegel. Säuglingsanfangs- oder Folgenahrung auf Sojabasis weisen Hormongehalte auf, die im Tierversuch ausreichen, um die Fortpflanzungsorgane zu beeinträchtigen. Die Effekte auf den Menschen, insbesondere die Langzeiteffekte, konnten jedoch bisher nicht abschließend geklärt werden. Da Soja darüber hinaus potenziell allergene Proteine und Substanzen enthält, die die Schilddrüsenproduktion hemmen, empfiehlt das Bundesinstitut für Risikobewertung nur Kindern mit bestimmten Erbkrankheiten eine solche Säuglingsnahrung auf Sojabasis. Sojadrinks werden gleichermaßen als nicht geeignet für die Bedürfnisse von Säuglingen eingestuft.

Nahrungsergänzungen nicht zu empfehlen

Frauen in den Wechseljahren erleben große hormonelle Veränderungen. Seit langem ist bekannt, dass Japanerinnen, deren traditionelle Kost reich an Sojaprodukten und Jod ist, kaum Wechseljahresbeschwerden kennen. So gibt es für isoflavonhaltige Lebensmittel vermehrt Hinweise, auf gesundheitsfördernde Effekte. Phytoöstrogene binden den Östro­genrezeptor und blockieren ihn für das eigentliche Hormon. Die pflanzlichen Verbindungen wirken deutlich schwächer östrogen, bilden aber auch weniger stabile Komplexe mit dem Rezeptor als das Hormon. Somit kommt es auf die Konzentration des gleichzeitig vorhandenen menschlichen Östrogens an, ob die Pflanzenhormone östrogen oder antiöstrogen wirken. Viele Frauen scheinen von isoflavonhaltigen Lebensmitteln zu profitieren, insbesondere, wenn sie auch gestagenähnliche Substanzen enthalten, wie Sojabohnen, Leinsamen, Kürbiskerne oder Safloröl. Deshalb wurden Isoflavone in Form von Nahrungsergänzungsmitteln oder Sojaprodukten auch Frauen mit westlicher Ernährung zur Linderung von Wechseljahresbeschwerden empfohlen. Inzwischen stehen isolierte Isoflavone aus Nahrungsergänzungsmitteln aber im Verdacht, das Brustkrebsrisiko zu erhöhen. Zudem sollten Frauen in der Prämenopause vorsichtig sein, bei denen Symptome ähnlich dem Prämenstruellem Syndrom auftreten, weil ihr Gestagenspiegel schneller als der Östrogenspiegel absinkt. Hier verstärken isoflavonhaltige Lebensmittel vermutlich die hormonelle Schieflage noch.

Die Belastung durch allgegenwärtige und langlebige Umwelthormone lässt sich wenig beeinflussen. Zwar ließe sich durch eine gezielte Auswahl von Lebensmitteln die Aufnahmemenge reduzieren. Aber ob Männer mit Kinderwunsch, im Mutterleib heranwachsende Kinder oder Frauen in den Wechseljahren davon profitieren, kann nicht eindeutig beanwortet werden.

Onlineversion des Beitrags: Gaster C. Endokrine Disruptoren: Umweltsubstanzen mit Hormonwirkung. UGB-Forum 5/2011, S. 245-248