Bio 3.0: Chancen des Biobooms nutzen

Es gibt mehrere Gründe, warum über Bio 3.0 nachgedacht wird. Zu wenig umstellungsbereite Landwirte, ein globalisierter Biohandel und betrugsanfällige Kontrollen gehören dazu. Bio muss sich weiterentwickeln, um die Chance für einen Ausbau der ökologischen Landwirtschaft zu nutzen.

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Die Nachfrage nach biologischen Lebensmitteln steigt, kann in Europa aber immer weniger regional oder national befriedigt werden. Denn zurzeit fehlt es an Erzeugern, die neu auf Bio umstellen wollen. Die wachsende Globalisierung des Biohandels verunsichert Verbraucher und bringt auch das gut etablierte Zertifizierungssystem an seine Grenzen. Zudem droht der Ökolandbau seinen großen Vorsprung als ökologisch und sozial nachhaltige Landwirtschaft zu verlieren, da andere Nachhaltigkeitslabels aufholen. Mittlerweile gibt es mehr als 400 Labelprogramme wie zum Beispiel Rainforest Alliance, FairTrade, UTZ oder MSC, welche bei Untersuchungen auf Betrieben vergleichbar gute Wirkungen auf die ökologische, soziale oder ökonomische Nachhaltigkeit zeigen wie Bio. Mit Blick auf die weltweite Biofläche von nur knapp einem Prozent kommen zudem Zweifel auf, ob der Biolandbau tatsächlich ein Vorbild für die Landwirtschaft der Zukunft ist.

Der Markt für zertifizierte Bioprodukte ist weltweit auf 72 Milliarden US Dollar angestiegen. 90 Prozent davon werden in Nordamerika und in Europa konsumiert. Zahlenmäßig sind aber ca. 85 Prozent der Landwirte in Asien, Ozeanien, Lateinamerika und Afrika tätig. Auch mengenmäßig werden laufend mehr biologische Rohstoffe global gehandelt. Die große Dynamik der beiden Binnenmärkte USA und EU lässt vermuten, dass die globalen Handelsvolumina für Bioprodukte weiter anwachsen werden.

Zu wenige Bauern steigen auf Bio um

Bedeutende Wachstumsmärkte wie Deutschland, Österreich und die Schweiz müssten eigentlich ein Schlaraffenland für Bauernfamilien sein, um sofort in den Ökolandbau einzusteigen. Doch sie tun es nicht. In Österreich steigen Produzenten sogar wieder aus, was jüngst zu einem Rückgang von minus vier Prozent führte. In Deutschland und in der Schweiz gibt es auch Aussteiger, aber es findet sich trotzdem noch ein schwaches Wachstum von plus zwei Prozent. Gerade für die Schweiz ist dies enttäuschend, da intensive Beratungskampagnen und gute Flächenprämien eigentlich zu einem richtigen Bioboom in der Landwirtschaft hätten führen müssen.

Es gibt viele Erklärungen für das Phänomen der „Umstellungsunwilligkeit“. Einerseits handelt es sich um ökonomische Gründe: Erzeuger außerhalb der EU und der Europäischen Freihandelsassoziation EFTA können wegen der Flächenausstattung und den Arbeitskosten billiger produzieren und setzen so – trotz großer Nachfrage für Bioprodukte – die Preise unter Druck. Ein Grund liegt auch im Konzept des Biolandbaus, welches eine zu starke Spezialisierung verhindert. Wird zum Beispiel Getreide gesucht, bringen Neuumsteller meist auch noch Milch und Fleisch auf die Märkte, da gut funktionierende Biobetriebe vielfältig sind und Tierhaltung und Ackerbau miteinander kombinieren.

Einige Gründe sind auch sozialer und psychologischer Natur, das kommt bei allen wissenschaftlichen Untersuchungen zutage. Oft schrecken die zunehmende Regulierung und damit der Verlust an Selbstbestimmung die Landwirte ab. Sie befürchten, bei einer Umstellung die Anerkennung und Wertschätzung ihrer Kollegen zu verlieren. Vielen mangelt es an Risikobereitschaft oder der Biolandbau spricht ihnen das Selbstverständnis als Landwirte ab, das mehrheitlich technik-orientiert ist.

Biobauern mehr einbinden

Die Entwicklung führt dazu, dass die ganze Biobranche inklusive Forschung und Beratung stark umdenken muss und dies unter dem Stichwort Bio 3.0 auch tut. Glaubte man bis vor Kurzem noch, dass die Verbraucher der Flaschenhals in der weiteren Ausdehnung des Ökolandbaus seien, fokussiert man sich heute wieder stärker auf die Landwirtschaft. Im neuen Forschungsprogramm der EU, Horizon 2020, liegt ein starker Fokus auf angewandte Fragestellungen. Im Stillen hat sich damit eine Revolution vollzogen. Landwirte wurden vom Empfänger von Wissen zum Mitproduzenten von Innovationen. Mit dem starken Einbeziehen der Landwirte ist somit ein Anliegen des Ökolandbaus aus den Pionierzeiten Wirklichkeit geworden.

Qualität und Kontrolle weiterentwickeln

Trotz Euphorie über wachsende Märkte müssen jetzt verschiedene Herausforderungen der Zukunft angegangen werden. Der globalisierte Handel zum Beispiel birgt zahlreiche Gefahren in sich. Einerseits stößt die seit den 1980er Jahren ständig weiterentwickelte Qualitätssicherung und Warenflusskontrolle an seine Grenzen. Die auf Dokumentation und stichprobenartige Durchleuchtung ausgelegte Prozesskontrolle ist betrugsanfällig geworden, vor allem, weil durch kriminelle Aktivitäten gute Gewinne gemacht werden können.

In den nächsten Jahren müssen ganz neue Konzepte für die Kontrolle und Qualitätsanalyse entwickelt werden (HACCP oder QACCP). Diese enthalten neue Methoden zur Analytik wie Isotopenmassenspektroskopie oder Metabolit-Profiling, mit deren Hilfe man Aussagen über die Herkunft und den Herstellungsprozess machen kann. Für weit entfernte Produktionsorte werden auch multi- und hyperspektrale Bilddaten von Satelliten oder Mikrodrohnen zum Zuge kommen, um Plausibilitätsabschätzungen zu machen, das heißt, ob der Erzeuger tatsächlich die angegebenen Mengen produziert hat. Aufgrund von fein aufgelösten Farbunterschieden auf Bildern, welche durch die Art und Intensität der Düngung, durch Unterschiede zwischen chemischer oder mechanischer Unkrautbekämpfung sowie durch unterschiedlich starken Krankheits- oder Schädlingsbefall entstehen, kann auf die Bewirtschaftung zurückgeschlossen werden. Das mag alles futuristisch klingen, aber die Methoden entwickeln und verbessern sich rasant.

Kooperation von Erzeuger und Konsument fördern

Besonders wichtig ist andererseits, die lokale Bioproduktion sehr stark zu fördern. Ein großes Potenzial liegt in der sozialen Innovation, indem in und rund um Städte ökologische Landwirtschaft und Gartenbau betrieben werden. Diese enge Kooperation zwischen Erzeugung und Konsum stellt ein Erfolgsmodell der Zukunft dar. Es bleibt nicht nur mehr Wertschöpfung bei den Erzeugern, sondern es wird auch für die Verbraucher billiger. Auf kurze Distanzen können vereinfachte Kontrollen eingeführt werden. Wohlwissend, dass die Solidarische Landwirtschaft (Community Supported Agriculture – CSA, siehe S. 124) oder die Stadt-Landwirtschaft (Urban Agriculture) immer eine Nische bleiben werden, hat diese Entwicklung trotzdem eine große Bedeutung für den Ökolandbau. Sie erzeugt viel Goodwill und Glaubwürdigkeit und unterstützt das ursprüngliche Anliegen, lokal zu produzieren und zu konsumieren.

Doch alle diese Maßnahmen bringen noch keine neuen Biobäuerinnen und -bauern. Die Umstellung eines landwirtschaftlichen Betriebs setzt sehr viel Wissen voraus, über die Anbautechnik, die Tierhaltung, aber auch über die Richtlinien und die Zertifizierung. Eine gute Beratung ist unabdingbar, sei es durch Experten der Verbände oder Landeskammern. Gegenseitiger Erfahrungsaustausch zwischen den Landwirten nimmt dabei einen wichtigen Platz ein. Das Angebot in den deutschsprachigen Ländern ist sehr groß, neben Dänemark wohl weltweit einzigartig.
Um wesentlich mehr Landwirte anzuziehen, bezeichnet der Bioweltdachverband IFOAM Organics International in Bonn eine umfassende Innovationskultur als wichtig. Neben der sozialen Innovation, wie sie oben mit neuen Partnerschaften zwischen Landwirten und Verbrauchern bereits angesprochen ist, soll auch die ökologische und die technologische Innovation vorangetrieben werden. Mittlerweile haben sich in der Forschung die Schwerpunkte etwas verschoben. Die Verbesserung der Tiergesundheit, der Fütterung und der Haltungssysteme rückt zum Glück in den Vordergrund, denn das Tierwohl ist zu einem großen gesellschaftlichen Anliegen geworden (siehe auch S. 114). Ebenso wichtig ist es, im Ökolandbau über die Produktivität im Pflanzenbau zu sprechen. Einerseits, weil die Ertragsschere zwischen ökologischen und konventionellen Betrieben weiter auseinander geht. Andererseits, weil andere Maßnahmen zur Sicherung der Ernährung wie die Vermeidung von Verlusten und Abfällen oder eine vernünftige Ernährungsweise bisher kaum greifen.

Neuerungen beschleunigen

Viele Gespräche mit Landwirten zeigen, dass mehr Innovation gewünscht ist, um den Ökolandbau attraktiver und weniger risikoreich zu gestalten. In der Diskussion um Bio 3.0 wird von einer umfassenden Innovationskultur gesprochen, basierend auf sozialen, ökologischen und technischen Neuerungen. Die Umsetzung eines solch umfassenden Konzeptes braucht genug Kapazitäten in der Forschung und in der Beratung. Zum Glück engagieren sich die Bioverbände in den drei deutschsprachigen Ländern stark dafür. Doch die Herausforderungen sind so groß, dass massiv mehr öffentliche Mittel in die Forschung gesteckt werden müssen.

Eine größere Offenheit gegenüber technischen Innovationen zum Beispiel in der Pflanzenzüchtung (etwa die neusten Methoden der markergestützten Selektion) oder in der Präzisionslandwirtschaft, welche in der Bodenbearbeitung, der Unkrautregulierung oder der Verteilung von organischen Düngern mit Sensoren, Kameras und Satellitensteuerung arbeitet, könnte echte Fortschritte bringen. Auch die Entwicklung natürlicher Pflanzenbehandlungsmittel auf der Basis von Pflanzenextrakten und lebendigen Organismen (Biocontrol) haben ein großes Potenzial, setzen aber eine gute und langjährige Grundlagenforschung voraus. In einigen Bereichen müssten auch die Richtlinien überdacht werden, so zum Beispiel in der Nutzung von Pflanzennährstoffen aus Klärschlämmen, wo modernste Aufbereitungsverfahren die alten Probleme mit Schadstoffen lösen können.

Ständige Verbesserungen hin zur Besten Praxis

Die bisherigen Ideen, welche von der IFOAM und von den deutschsprachigen Anbauverbänden diskutiert werden, forcieren den Aspekt der ständigen und dynamischen Verbesserung ökologischer Betriebe in Richtung Beste Praxis. Während bei den gesetzlichen Mindestanforderung für Bio die gemeinwirtschaftlichen Leistungen im Vordergrund stehen sollten (Umweltschutz, Bodenschutz, Tierwohl, Biodiversität), soll es eher die Aufgabe der privaten Biosiegel sein, zusammen mit Erzeugern, Verarbeitern und Händlern ökologisch, sozial und ethisch immer besser zu werden. Dazu wird die Bewertung der Nachhaltigkeit und der Qualität eine größere Rolle spielen und Bestandteil der Beratung und eventuell später der Ökozertifizierung werden. Solche Bewertungssysteme arbeiten mit Dutzenden, wenn nicht Hunderten von Indikatoren. Die FAO arbeitet mit den SAFA- und die IFOAM mit den SOAAN-Richtlinien. Darauf basierende Werkzeuge, mit denen man Betriebe oder Handelsketten bewerten kann, sind zum Beispiel RISE, SMART oder die Sustainability Flower.

Der Mehrwert der Besten Praxis wird auf den Lebensmitteln ausgelobt werden können. Dies kommt ebenfalls dem Bedürfnis der Verbraucher entgegen, mehr Hintergrundinformationen zu den Lebensmitteln zu erhalten. Mehr Transparenz kann erfolgreich über nackte Zahlen erfolgen, zum Beispiel mit dem Programm „Zurück zum Ursprung“ in Österreich, welches unter anderem über die CO2-Einsparung auf den Produkten informiert. Oder durch Geschichten auf den Verpackungen, die über den Mehrwert biologischer Produkte aufklären, wie das der Marktforscher Jörg Reuter vorschlägt.

Bio muss sich weiterentwickeln

Bio 3.0 ist also mehr als ein Schlagwort. Es geht um eine Modernisierung, die nicht im Widerspruch mit den Prinzipien der IFOAM stehen soll. Dies wird wieder mehr Landwirte zum Umsteigen bewegen. Einmal drin, sollen Landwirte darin unterstützt werden, die Betriebsführung, die Umweltvorteile, die Arbeitsbedingungen und die Tierhaltung laufend zu verbessern. Dazu gibt es in der Beratung, im zwischenbetrieblichen Vergleich und in der Zertifizierung geeignete Werkzeuge. Bio 3.0 kann damit zu einem echten Leitbild für die Landwirtschaft werden.

Quelle: Nigli U. Bio 3.0: Chancen des Biobooms nutzen. UGBforum 6/14, S. 308-309