Allergien und Unverträglichkeiten: Wahn oder Wirklichkeit?

Immer mehr Menschen wählen heute spezielle Ernährungsformen, da sie glauben, unter einer Lebensmittelunverträglichkeit zu leiden. Zwar steigt die Zahl der Allergiker oder Zöliakiekranken tatsächlich an. Doch steckt nicht manches Mal auch der aktuelle Zeitgeist hinter der Ablehnung bestimmter Nahrungsmittel?

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Beschwerden nach dem Verzehr von Nahrungsmitteln beobachten nach eigenen Angaben 25-30 Prozent der Bevölkerung. Rufen bestimmte Lebensmittel reproduzierbare Beschwerden hervor, so kann dies als eine Nahrungsmittel­unverträglichkeit definiert werden. Ist bei diesen Reaktionen das Immunsystem beteiligt, dann handelt es sich um eine Nahrungsmittelallergie. Daneben gibt es auch nicht-immunologische Reaktionen auf Lebensmittel. Für die Diagnose und Therapie ist dies eine bedeutsame Unterscheidung. In einer Zusammenstellung von 60 Studien und Meta-Analysen zeigte sich, dass unter den Nahrungsmittelallergien eine Allergie auf Kuhmilcheiweiß mit 6 Prozent am häufigsten vorkommt, gefolgt von Weizen (3,6), Eiern (2,5), Fisch (2,2), Nüssen und Meeresfrüchten (je 1,3) sowie Erdnüssen (0,4). Echte Lebensmittelallergien sind bei Erwachsenen mit 2-5 Prozent seltener als bei Kindern mit etwa 5-10 Prozent. Nach eigener Einschätzung vermuten jedoch erheblich mehr Menschen, dass sie unter einer Nahrungsmittelallergie leiden. Dabei unterscheiden Betroffene jedoch meist nicht zwischen einer allergischen und einer nicht-allergischen Reaktion.

Tatsächliche Zunahme an Allergien

In den letzten 30 Jahren ist weltweit eine deutliche Zunahme allergischer Erkrankungen zu beobachten. Dazu gehören neben Heuschnupfen, allergischem Asth­ma und atopischem Ekzem auch Nahrungsmittelallergien. Zum einen ist die Zahl der sogenannten primären Sensibilisierungen auf Nahrungsmittel angestiegen. Es finden sich zum anderen immer mehr Menschen, die aufgrund einer Sensibilisierung gegen Pollen sekundär auf Kreuzallergene in den Nahrungsmitteln reagieren.

Das heißt, es leiden heute tatsächlich mehr Menschen an einer Allergie gegen bestimmte Lebensmittel. Das Bewusstsein für Allergien ist in der Bevölkerung demzufolge deutlich gestiegen. Änderungen in der Kennzeichnungsverordnung tragen diesem Umstand Rechnung. So werden seit über zehn Jahren die 14 Hauptallergene inklusive Laktose in verpackten Lebensmitteln deklariert. Seit Dezember 2014 müssen diese Hauptallergene zusätzlich deutlich in der Zutatenliste hervorgehoben werden. Außerdem muss auch für unverpackte Lebensmittel – beispielsweise beim Bäcker, Metzger oder in der Gastronomie – eine schriftlich hinterlegte Kennzeichnung über die Hauptallergene erfolgen. Nicht auszuschließen ist, dass der Verbraucher diese speziell gekennzeichneten Inhaltsstoffe per se als problematisch einstuft, obwohl sie bei den meisten gar keine Beschwerden verursachen.

Bestimmte Kohlenhydrate teilweise nicht verträglich

Der Hauptanteil aller auftretenden Beschwerden nach dem Konsum von Lebensmitteln liegt mit 20-25 Prozent bei den nicht-immunologisch bedingten Nahrungsmittel­unverträglichkeiten. Dazu zählt die Gruppe der sogenannten Kohlenhydratmalassimilationen. Dabei kommt es zu einer unzureichenden Ausnutzung von Kohlenhydraten wie Fruktose, Sorbit oder Laktose, die teilweise von den Darmbakterien unter Bildung störender Darmgase abgebaut werden. Am häufigsten ist in Deutschland die Laktoseintoleranz.

Milchzucker bei einigen unbekömmlich

Genetisch bedingt wird bei vielen Menschen mit zunehmendem Alter immer weniger des Milchzucker spaltenden Enzyms Laktase produziert. Rund 16 Prozent der hiesigen Bevölkerung sind Träger dieser genetischen Variante. Bis vor zehn Jahren wurde jemand mit Laktoseintoleranz in Deutschland von der Lebensmittelindustrie sowie in der Außerhausverpflegung weitestgehend alleine gelassen, was die Kennzeichnung und das Angebot von laktosefreien Produkten betrifft. Bedingt durch die Deklarationspflicht von Laktose in unseren Lebensmitteln sind mittlerweile vermutlich viele Menschen erst auf den Umstand aufmerksam gemacht worden, vielleicht ein Problem mit dem Milchzucker zu haben. So erweckt die Lebensmittelindustrie durch bewusste Werbung und besondere Kennzeichnung vielfach den Eindruck, dass derartige Produkte einen Vorteil für die Gesundheit aufweisen. Es ist daher davon auszugehen, dass ein Teil der Bevölkerung diese Produkte ohne Notwendigkeit verzehrt. Durch Bewerbung von Lebensmitteln als „natürlicherweise laktosefrei“, wie beispielsweise Mineralwasser, werden Verbraucher zusätzlich in die Irre geführt.

Probleme mit Fruktose und Sorbit

Die Verträglichkeit von Fruktose ist individuell unterschiedlich. Etwa zehn Prozent der Bevölkerung leiden unter einem Mangel eines Proteins (GLUT-5) in der Dünndarmzelle, das für den Transport dieses Kohlenhydrats verantwortlich ist. Dann werden Fruktose und meist auch Sorbit reduziert oder verlangsamt aus dem Darm aufgenommen und es kommt zu Bauchschmerzen und Blähungen.

Die Kapazität des für die Aufnahme aus dem Darm zuständigen Transporters ist aber auch bei Gesunden begrenzt. Durch größere Fruktosemengen können so letztlich bei jedem Beschwerden auftreten. Manche Menschen nehmen durch den regelmäßigen Genuss von Säften, Obst und Trockenobst vergleichsweise viel Fruchtzucker auf, ohne sich dessen bewusst zu sein. Eine entsprechende Ernährungstherapie kann zu einer deutlichen Verbesserung der Verträglichkeit führen.

Glutenfreie Produkte wurden bis vor zehn Jahren weitestgehend in Reformhäusern und Naturkostläden oder über den Versandhandel angeboten. Käufer waren im Wesentlichen die etwa 0,3 Prozent der Bevölkerung mit einer Zöliakie oder auch ein Teil der betroffenen Getreideallergiker. Verkauft werden jedoch weltweit inzwischen deutlich mehr glutenfreie Produkte, die inzwischen in jedem gut sortierten Supermarkt oder sogar im Discounter zu finden sind. Laut eines deutschen Statistikunternehmens erhöhte sich der Umsatz mit glutenfreier Ware hierzulande von 2010 auf 2012 um etwa 40 Prozent.

Wachsendes Angebot schürt Nachfrage

Die permanente Präsenz glutenfreier Lebensmittel einerseits sowie ein weltweiter Trend in den Medien, Weizen und Gluten als Verursacher zahlreicher Erkrankungen – insbesondere des Übergewichts – zu beschwören, haben sich gegenseitig verstärkt. In einschlägigen Internetforen wird nicht selten eine Vielzahl von Beschwerden aufgezählt, an denen Weizen schuld sein soll. Insbesondere Gewichtsveränderungen oder auch psychische Effekte werden bestimmten Nahrungsmitteln hier oft unbegründet und unkritisch zugeordnet.

Tatsächlich beobachten heute 2-3 Prozent der Bevölkerung in Deutschland reproduzierbare Beschwerden nach dem Verzehr von Weizen oder anderen glutenhaltigen Nahrungsmitteln, ohne das eine Zöliakie oder eine Getreideallergie diagnostiziert wurde. Diskutiert und untersucht werden heute zuchtbedingte Veränderungen im Weizen als mögliche Auslöser. Das könnte beispielsweise die höhere Konzentration sogenannter Alpha-Amylase-Trypsin-Inhibitoren in unseren heutigen Weizensorten sein. Möglicherweise besitzen aber auch sogenannte FODMAPs eine wichtige Bedeutung. Hier handelt es sich um nicht resorbierbare Fermentierbare Oligo-, Di- und Monosaccharide and Polyole (Zuckeralkohole). Diese natürlicherweise unter anderem auch in Obst, Gemüse und Hülsenfrüchten vorkommenden Kohlenhydrate sind nicht selten Auslöser von Reizdarmbeschwerden. Unabhängig vom Gluten scheint alleine die Einschränkung dieser FODMAPs bei bestimmten Darmbeschwerden Linderung zu bringen. Zeitgleich ist in zahlreichen, vor allem jüngeren Bevölkerungsgruppen ein verändertes Ernährungsverhalten mit einem vermehrten Konsum von Weizen zu beobachten. Mögliche Zusammenhänge sind aber noch nicht erforscht.

Beschwerden aufgrund von Erwartungen?

Bei all den genannten Beschwerden kann der sogenannte Nocebo-Effekt durchaus eine Rolle spielen. Anders als beim Placebo-Effekt, bei dem beispielsweise ein Scheinmedikament positive Wirkung zeigt, kann die Erwartung von unangenehmen Folgen reale Beschwerden auslösen. Nocebo bedeutet, es tritt die sich selbsterfüllende negative Prophezeiung ein. Gerade bei recht unspezifischen Symptomen wie Bauchgrummeln, Blähungen, Müdigkeit oder veränderten Stuhleigenschaften kann das Erwarten solcher Anzeichen dazu führen, dass man genauer in seinen Körper hineinspürt und daraufhin tatsächlich Störungen wahrnimmt. Auch aus diesem Grund ist die Diagnose von Nahrungsmittelunverträglichkeiten – ob immunologisch oder nicht-immunologisch – nicht immer einfach. Allergietest, Atemtest oder die Ergebnisse einer Endoskopie sind richtungsweisend und wichtig. Ein negativer Allergietest heißt aber nicht in jedem Fall, dass eine Nahrungsmittelallergie ausgeschlossen ist und umgekehrt. Der wichtigste diagnostische Baustein bleibt die individuelle diätetische Therapie unter professioneller Anleitung. Diäten „aus der Schublade“ funktionieren meistens nicht und Ernährungsumstellungen auf eigene Faust bergen immer die Gefahr einer unausgewogenen Zufuhr an Nährstoffen.

Nicht zu unterschätzen ist bei der Betrachtung von vermeintlichen Unverträglichkeiten der Wandel im Lebensstil. Viele Menschen nehmen sich oder haben tatsächlich immer weniger Zeit für die Zubereitung ihres Essens. Sie verzehren dann schnelle Mahlzeiten außer Haus, hauptsächlich bestehend aus Convenience-Produkten. Die Slogans der Lebensmittelindustrie „grab and go“ oder „eat and walk“ erfahren hier traurige Realität. Folgen dieses Verhaltens sind eine stark eingeschränkte Lebensmittelauswahl sowie ein hoher Anteil stark verarbeiteter Lebensmittel. Dieses veränderte Ernährungsverhalten trägt nicht selten dazu bei, dass Magen-Darm-Beschwerden auftreten. Aber statt die Essgewohnheiten und Lebensumstände mit zu berücksichtigen, vermuten viele eher eine Nahrungsmittel­unverträglichkeit als Auslöser der Beschwerden.

Keine Diät ohne Diagnose

Lebensmittel mit dem Label „frei von“ scheinen manche Verbraucher besser zu bewerten als herkömmliche. Werden laktosefreie, allergenarme oder glutenfreie Produkte verzehrt, ohne dass eine Unverträglichkeit besteht, so birgt dies keine gesundheitlichen Risiken. Einen höheren Gesundheitswert per se haben diese Lebensmittel allerdings nicht. Ebenso wenig lässt sich damit eine Gewichtsreduktion erzielen. Glutenfreie Produkte weisen teilweise sogar einen höheren Kaloriengehalt und geringeren Ballaststoffanteil auf. Zusätzlich sind die Kosten für laktose- oder glutenfreie Produkte meist höher als bei herkömmlichen Lebensmitteln. Nicht zu unterschätzen ist auch der psychische Aspekt der Verunsicherung. Permanente Fragestellungen wie: „Esse ich mich krank?“ oder „Was vertrage ich wirklich?“, können zu einer starken Einschränkung der Lebensqualität führen und sich in schweren Fällen bis zu einer Orthorexia nervosa entwickeln, das heißt einer krankhaften Beschäftigung mit gesundem Essen.

Natürlich kann eine Ernährungsumstellung oder bewusste Ernährung bei manchen Menschen durchaus zu einem Rückgang von Beschwerden führen. Ob dabei tatsächlich der Verzicht auf Laktose, Fruktose, Gluten oder andere Lebensmittelinhaltsstoffe notwendig ist und zu dieser Verbesserung geführt hat oder ob eventuell Nocebo-Effekte wirksam sind, lässt sich nur durch eine gezielte Diagnostik und professionelle Ernährungstherapie abklären.

Nicht auf eigene Faust

Bauchschmerzen oder Unwohlsein nach dem Essen treten bei fast jedem einmal auf. Problematisch wird das in der Regel, wenn die Beschwerden immer wieder auftreten oder weitere Symptome hinzukommen wie starker Durchfall, heftiges Erbrechen, Haut­ausschläge oder Gewichtsverlust. Betroffene sollten aber nicht auf eigene Faust Diät halten und bestimmte Lebensmittel einfach weglassen. Das kann eine spätere Diagnose erschweren. Sinnvoll ist es dagegen, ein Ernährungstagebuch zu führen, das heißt, die verzehrten Lebensmittel und die auftretenden Beschwerden zu dokumentieren. Das kann bei dem unverzichtbaren Arztbesuch helfen, die Ursachen einzugrenzen.

Quelle: Menne A: UGBforum 1/15, S. 6-9