Nutrigenomik - Besser essen mit dem Gencode?

Bestimmte Gene im Erbgut signalisieren ein höheres Risiko für Übergewicht und andere Erkrankungen. Ernährungsforscher hoffen, dass anhand einer Genanalyse individuell zugeschnittene Empfehlungen zur Lebensmittel­auswahl möglich werden. Sieht so die Zukunft der Ernährungsberatung aus?

nutrigenomik © Cleaverscientific

Allgemeine Ernährungsratschläge zeigen bislang nur wenig Wirkung, das Essverhalten in der Bevölkerung zu verbessern. Die steigenden Zahlen für Übergewicht und Adipositas machen dies deutlich. Ob individuelle Ernährungsempfehlungen, die auf einer Analyse der genetischen Informationen basieren, wirksamer sind, daran wird derzeit intensiv geforscht.

Jeder Mensch besitzt schätzungsweise 20.000 bis 25.000 Gene, die alle Informationen für die Funktion unseres Körpers enthalten. Der Bau aller Enzyme, Hormone und deren Rezeptoren wird ebenfalls über unsere Gene gesteuert – auch die, die für unseren Nährstoff- und Energiestoffwechsel relevant sind. Bei manchen Genen weicht die Funktion von der Norm ab. Das kann zu Veränderungen des Stoffwechsels führen und das Risiko für Erkrankungen steigern. Die Veränderungen an den Genen werden auch als Polymorphismen bezeichnet und durch einzelne, kleine Schreibfehler in der Gensequenz hervorgerufen. Forscher haben mittlerweile zahlreiche dieser abweichenden Gene – Kandidatengene genannt – bestimmt.

Bestimmte Gene erhöhen Risiko für Übergewicht

Allein für Übergewicht und Adipositas hat man bisher über 40 Kandidatengene identifiziert. Das bekannteste Gen codiert den Bauplan für den sogenannten Melanocortin-4-Rezeptor (MC4R). Dieser Rezeptor beeinflusst den Energiehaushalt unseres Organismus und reguliert das Körpergewicht. Ist der Rezeptor defekt, entwickeln die Betroffenen teilweise bereits im Kindes- und Jugendalter starkes Übergewicht. Etwa 60 Prozent der Träger dieser Genvariante sind übergewichtig. Die Häufigkeit einer Veränderung am MC4-Rezeptor in der Allgemeinbevölkerung beträgt etwa 1:2000, das heißt etwa 0,05 Prozent der Bevölkerung.

Dieser Beitrag ist im UGBforum 5/16 Foodtopia: Essen aus der Retorte erschienen.

Auch das FTO-Gen (fat mass and obesity associated-Gen) kann die Gewichtszunahme fördern, wenn die Sequenz des Gens verändert ist. Vergleichsstudien zeigen, dass Träger eines veränderten FTO-Gens im Durchschnitt drei Kilogramm mehr wiegen als Personen ohne einen solchen Polymorphismus. Betroffene haben ein vermindertes Sättigungsgefühl und neigen dazu, insgesamt mehr und fettiger zu essen. Europaweit trägt rund jeder Sechste ein verändertes FTO-Gen.

Gefahr für Erkrankungen mindern?

Eine abweichende Gensequenz kann nicht behandelt werden. Das heißt, auch Träger einer übergewichtsfördernden Genvariante sind bislang auf bewährte Abnehmmethoden mit Ernährungsumstellung und Bewegungstherapie angewiesen. Die Erkenntnisse zeigen aber deutlich, dass eine genetische Veranlagung es Übergewichtigen sehr schwer machen kann, langfristig abzunehmen.

Vor kurzem haben Mediziner an der Charité in Berlin zwei Patientinnen behandelt, die aufgrund einer seltenen genetischen Veränderung einen Mangel des Botenstoffs Propiomelanocortin (POMC) aufwiesen und infolge dessen an starkem Übergewicht litten. Die Patientinnen erhielten ein Präparat, das die Wirkung des Botenstoffes ersetzt und das Sättigungszentrum im Gehirn gezielt aktiviert. Schon innerhalb weniger Wochen zeigten beide eine Normalisierung des Hungergefühls und eine deutliche Reduktion ihres Gewichts.

Ein weiteres Beispiel für ein ernährungsrelevantes Kandidatengen ist das MTHFR-Gen, das für die Bildung des Enzyms Methylentetrahydrofolat-Reduktase zuständig ist. Das Enzym gilt als Schlüsselenzym des Folsäurestoffwechsels und steuert den Abbau des schädlichen Homocystein zu Methionin. Träger eines abweichenden MTHFR-Gens können Folsäure schlechter in ihre biologisch aktive Form überführen und das Risiko steigt für eine Reihe von Erkrankungen. Etwa fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung sind von einer Veränderung des MTHFR-Gens betroffen. Bei diesen Personen ist das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen erhöht, besonders dann, wenn gleichzeitig ein Mangel an B-Vitaminen vorliegt und weitere Risikofaktoren wie Übergewicht oder Rauchen bestehen. Betroffene können ihr Krankheitsrisiko durch eine regelmäßige Zufuhr von Folsäure und Vitamin B12 mindern.

Food4me: Genbasierte Beratung getestet

Wissenschaftler und Unternehmer aus zwölf europäischen Ländern haben sich in dem Forschungsprojekt food4me – Essen für mich – mit der Erforschung personalisierter Ernährungsempfehlungen beschäftigt. Neben der Einstellung der Verbraucher zu Gentests sollte auch die Frage geklärt werden, ob personalisierte, über das Internet vermittelte Ernährungsempfehlungen das individuelle Essverhalten stärker beeinflussen, als die herkömmlichen Empfehlungen für die Allgemeinheit. In einer Ernährungserhebung mit 1500 Teilnehmern verglichen die Wissenschaftler über einen Zeitraum von sechs Monaten insgesamt vier Gruppen. Die Kontrollgruppe bekam über das Internet ganz allgemeine Ernährungsempfehlungen. Drei weitere Studiengruppen erhielten individuelle Empfehlungen: die erste Untergruppe bekam aufgrund eines Fragebogens zur Ernährung und dem Lebensstil personalisierte Empfehlungen, bei einer zweiten wurden zusätzlich Laborparametern wie Blutglucose und Gesamtcholesterin in den Empfehlungen berücksichtigt, und schließlich eine dritte Gruppe, bei denen die Analyse von fünf Kandidatengenen in die Ernährungsempfehlungen einfloss.

Die Studienergebnisse zeigen, dass die Akzeptanz für Ernährungsempfehlungen generell größer ist, wenn diese individuell angepasst sind. So aßen die Teilnehmer der Gruppen mit personalisierten Empfehlungen insgesamt weniger Salz, weniger gesättigte Fette und verloren etwas mehr Körpergewicht als die Kontrollgruppe. Allerdings zeigten die Ergebnisse auch, dass die genetischen Informationen keinen zusätzlichen Nutzen gegenüber einer klassischen Ernährungsberatung mit Ernährungs- und Lebensstilanamnese haben. Dieses Ergebnis ist somit eine gute Bestätigung für alle, die Ratsuchende in der Ernährungsberatung auf ihre individuellen Bedürfnisse hin beraten. Gleichzeitig stellen die Ergebnisse den Nutzen von ernährungsbezogenen Gentests in Frage.

Immer mehr Gentests auf dem Markt

Freiverkäufliche Gentests erfreuen sich trotz des zweifelhaften Nutzens immer größerer Beliebtheit. Inzwischen kann jeder einen Teil seines Genoms für etwa 200 bis 500 Euro auswerten lassen. Auf dem Markt gibt es bereits mehrere Anbieter, die über Apotheken, Fitnessstudios oder direkt über das Internet sogenannte Lifestyle-Gentests anbieten. Das Motiv der Kunden ist in der Regel eine Gewichtsreduktion. Bei den meisten ist vor der eigentlichen Genanalyse nur ein Fragebogen auszufüllen, nur bei einigen findet vor dem Test ein ausführliches Beratungsgespräch statt, teilweise mit ärztlicher Begleitung. Die Abwicklung des Gentests selbst ist bei den Anbietern ähnlich aufgebaut. Eine Speichelprobe oder ein Abstrich der Wangenschleimhaut wird dem Labor anonym zugeschickt, das dann spezielle Kandidatengene bestimmt. Das Testergebnis wird anschließend wieder an den Berater oder direkt an den Kunden zurückgeschickt. Häufig wird der Kunde einem vermeintlichen Stoffwechseltyp zugeordnet und erhält Empfehlungen zu Kalorienmenge, Nährstoffverteilung und Lebensmittelauswahl sowie zur sportlichen Aktivität. Die Aussagekraft ist allerdings alles andere als wissenschaftlich abgesichert.

Nutzen der Gentests fraglich

Ein grundlegendes Problem aller Genanalysen besteht darin, dass jede Genvariation theoretisch unsere Gesundheit beeinflussen könnte. In vielen Fällen bedeutet die Veränderung eines Gens aber lediglich, dass die statistische Wahrscheinlichkeit für eine Erkrankung steigt. Ob eine Krankheit dann tatsächlich ausbricht oder der Betroffene übergewichtig wird, hängt jedoch maßgeblich von äußeren Einflüssen und dem eigenen Lebensstil ab und lässt sich schwer vorhersagen. Die Experten des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke stufen den Beitrag der bislang identifizierten Genabweichungen zum gesamten Krankheitsrisiko eher als gering ein und schreiben den konventionellen Risikofaktoren wie dem Lebensstil eine erheblich größere Bedeutung zu. Auch Prof. Dr. Hebebrand von der Universität Duisburg-Essen, der mit einer Gruppe Wissenschaftler über genetische Ursachen für Übergewicht forscht, warnt davor, durch die Bestimmung der Erbanlagen beim Abnehmen falsche Hoffnungen zu wecken.

Die Europäische Akademienvereinigung (EASAC), die wichtige politische Institutionen und Entscheidungsträger der EU durch wissenschaftsbasierte Berichte und Empfehlungen berät, steht den angebotenen Tests ebenfalls kritisch gegenüber. Denn neben der eigentlichen Genanalyse werden häufig Nahrungsergänzungsmittel verkauft, die angeblich auf den analysierten Stoffwechseltyp passen, aber keinen besonderen Nutzen aufweisen. Ohne Einordnung der Ergebnisse können die Betroffenen zudem stark verunsichert werden. Anbieter ohne persönliche, fachlich fundierte oder ärztlich begleitete Beratung handeln daher grob fahrlässig. Allerdings fehlt für den Umgang mit den Daten aus den Lifestyle-Gentests bisher ein geeigneter rechtlicher Rahmen.

Großer Markt zu erwarten

Die auf Nutrigenomik basierende Beratung steht noch am Anfang. Forscher schätzen aber, dass Gentests zu personalisierten Ernährungsempfehlungen einen Marktwert von 6 bis 18 Milliarden Euro haben könnten, wenn „nur“ zehn Prozent der europäischen Bevölkerung die Leistung annehmen würden. Ebenso sehen sie in individuellen Empfehlungen mit vorheriger Genanalyse ein geeignetes Instrument, die öffentliche Gesundheit zu verbessern und wollen entsprechende Modelle fördern. Daher ist davon auszugehen, dass genbasierte Angebote deutlich zunehmen werden. Aus ethischer Sicht sollte aber immer der gesundheitliche Nutzen der Verbraucher im Vordergrund stehen und der ist derzeit noch alles andere als gesichert.

Quelle: Feichtinger J. UGB-FORUM 5/16, S. 218-220