Sport- und Muskelsucht: Wenn Muskeln süchtig machen

Jeden Tag Gewichte stemmen, den Diätplan pedantisch einhalten und eine verzerrte Selbstwahrnehmung sind typische Anzeichen für eine Sport- und Muskelsucht. Von der sogenannten Muskeldysmorphie, auch als Adoniskomplex bekannt, sind vor allem junge Männer und Sportler betroffen.

Der 24-jährige Markus B. treibt acht Mal die Woche Sport. Wenn er nicht mindestens drei Stunden trainiert, bekommt er ein schlechtes Gewissen. Mit seinen Muskeln und seinem Körperfettanteil ist der Student unzufrieden, auch wenn die Menschen in seinem Umfeld ihm immer sagen, wie muskulös er aussieht. Da sich mittlerweile öfter Überlastungserscheinungen wie Zerrungen oder Erschöpfungszustände zeigen, kann er nicht mehr so viel trainieren, wie er möchte.

Das Training steht für ihn an erster Stelle. Es ist für ihn wichtiger als Familienfeste, Freunde treffen oder andere soziale Verpflichtungen. In den Urlaub fährt er nur, wenn dort ein Fitnessstudio ist und er jeden Tag trainieren kann. Ansonsten fürchtet er, die bereits aufgebaute Muskelmasse und den geringen Körperfettanteil nicht halten zu können. Ergänzend zum Training folgt er einem sehr rigiden Ernährungsplan, der die täglichen Mahlzeiten genau auf das Training abstimmt. Mindestens sechs Mahlzeiten und mindestens 5000 Kilokalorien müssen es am Tag für ihn sein. Weniger auf gar keinen Fall. Vor dem Training kohlenhydratreich, nach dem Sport eiweißreich. Die Mengen und die Auswahl der Lebensmittel sind genau festgelegt. Zusätzlich nimmt er Nahrungsergänzungsmittel zur Optimierung des Muskelzuwachses. Genuss oder Essen nach Hunger und Sättigung kennt er praktisch nicht mehr.

Alles dreht sich um Training und Essen

Mit der Definition seiner Muskeln sowie den Problemzonen beschäftigt sich Markus B. täglich mehrere Stunden. Es fällt ihm schwer, an etwas anderes zu denken. Er fühlt sich ständig angespannt und kann eigentlich nicht mehr abschalten.

Symptome einer Muskel- und Sportsucht
  • hohe Unzufriedenheit mit dem Körperbild
  • andauernde Beschäftigung mit dem als unzureichend trainiert empfundenen Körper
  • ständiges Gedankenkreisen um Trainingsplan, Diäten und Sport
  • Stress und Druck aufgrund der andauernden Beschäftigung mit Sport und Körper
  • eine stark verzerrte Selbstwahrnehmung in Bezug auf das eigene Körperbild
  • Scham aufgrund des als defizitär empfundenen Körpers
  • Einschränkungen im sozialen und beruflichen Umfeld
  • Einnahme von gesundheitsschädigenden Präparaten(Anabolika/Steroide)
  • Der Fall von Markus B. schildert die typischen Verhaltensweisen bei einer Sport- oder Muskelsucht. Diese Form einer gestörten Körperwahrnehmung verbunden mit intensivem Sporttreiben wurde erstmals in den 1990er Jahren als Reverse Anorexia beschrieben, dem männlichen Pendant zur Magersucht. Nach Schätzungen leiden etwa ein bis sieben Prozent der Gesamtbevölkerung an einer Muskeldysmorphie. Bei Risikogruppen wie Leistungssportlern und Bodybuildern liegt die Quote bei bis zu 54 Prozent. Das Durchschnittsalter zu Beginn der Erkrankung wird auf 19,5 Jahre geschätzt – Jungs sind deutlich häufiger betroffen als Mädchen.

    Die Betroffenen empfinden sich dabei trotz bereits ausgeprägter Muskulatur als zu wenig muskulös. Um diesen vermeintlichen Makel zu beheben, treiben sie exzessiv Sport. Die Muskeldysmorphie zählt in den Diagnoseleitlinien zu den Zwangsstörungen, da der Leidensdruck der Betroffenen besonders auf dem zwanghaften Sporttreiben beruht. Die Störung hat Ähnlichkeiten mit stoffungebundenen Verhaltenssüchten wie Alkohol- oder Drogensucht. Alles Denken und Handeln der Betroffenen dreht sich um die Nahrungszufuhr, Sport und Körperlichkeit.

    Biologische und psychosoziale Ursachen

    Der Muskeldysmorphie liegt ein biopsychosoziales Krankheitsmodell zugrunde. Auf biologischer Ebene bilden neurokognitive Veränderungen, ein Ungleichgewicht im Neurotransmitterhaushalt und genetische Voraussetzungen die Grundlage für veränderte gedanklich-emotionale Verarbeitungsprozesse. Sie spielen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der Krankheit eine Rolle. Auf gesellschaftlich-sozialer Ebene ist es vor allem das Rollenbild des Mannes und dessen tiefe Verankerung im Gesellschaftssystem. Hinzu kommen die Verfügbarkeit von Fitnessstudios und Steroiden zum schnellen Muskelzuwachs sowie die generelle Bedeutung von Schönheit und definierten Muskeln in unserer Gesellschaft. Die andauernde Konfrontation mit durchtrainierten, perfekten Männerkörpern in Werbung und Medien führt zu einer Verinnerlichung eines dementsprechenden Männerbildes als Ideal und gipfelt in der Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper.

    Auf psychologischer Ebene fördern insbesondere Selbstwertdefizite die Erkrankung. Der eigene Körper wird als defizitäres Objekt betrachtet und als unattraktiv abgelehnt. Die Körperlichkeit und das Aussehen werden immer mehr die einzigen tragenden Säulen des Selbstwertes. In dieser Spirale aus Selbstabwertung, Selbstobjektifizierung und Optimierung verstärkt sich die Muskeldysmorphie. Perfektionismus und eine hohe Sensibilität im Zwischenmenschlichen verstärken diesen Effekt. Das Gefühl der Ablehnung und des Nicht-genug-seins wird häufig und stark gespürt. Diese Tendenzen haben ihren Ursprung oft in Mobbingerlebnissen in der Jugend der Betroffenen. Treffen diese Erfahrungen dann auf einen Auslöser der Zurückweisung oder Ablehnung, etwa Kommentare über das Aussehen, Trennung oder kritische Lebensereignisse, können diese den Beginn der Erkrankung auslösen.

    Hilfe in der Spezialberatung

    Weil sich seine Familie Sorgen macht, sucht Markus B. die Spezialberatung Muskelsucht der Caritas in München auf. Er habe eigentlich sein Leben lang einen unbeschwerten Umgang mit seinem Körper erlebt und gegessen, was er wollte. Dazu sei er sogar eher unsportlich gewesen. Ein gewisser Perfektionismus im Studium und an der Arbeit habe schon immer eine Rolle gespielt – er wolle es eben gut machen und niemanden enttäuschen. In diesem Verhalten zeigen sich das Vermeiden von Ablehnung und eine hohe zwischenmenschliche Sensibilität.

    Auslöser der Problematik sei seine Ex-Freundin gewesen. Zur Trennung habe sie ihm gesagt, er sei faul und zu dick und sie könne nicht mit so einer Person zusammen sein. Das habe ihn und seinen Selbstwert sehr getroffen. Er sei dann in ein tiefes Loch gefallen, habe angefangen, Sport zu treiben, um schön, stark und unangreifbar zu sein, so wie seine Rollenideale aus den Medien. Ihm sei schon immer wichtig gewesen, was andere von ihm halten und wie sie ihn sehen – und er wolle keine Angriffsfläche für mögliche Attacken bieten. Diese Aussagen stehen ebenfalls für eine besondere zwischenmenschliche Sensibilität.

    Therapie auf mehreren Ebenen empfehlenswert

    Leitlinien zur Behandlung der Muskeldysmorphie existieren bislang nicht. Das Vorgehen lässt sich jedoch aus der Therapie verwandter Erkrankungen wie Essstörungen, Zwangsspektrumsstörungen und Verhaltenssüchten ableiten. Eine umfassende Behandlung auf körperlicher, psychologischer und ernährungstherapeutischer Ebene ist ratsam.

    Auf körperlicher Ebene drehen sich die Kernthemen um die Einstellung zum eigenen Körper und dessen Wahrnehmung. Ziel ist der Wechsel von einer defizitorientierten, funktionalen Wahrnehmung hin zu einer differenzierten, wohlwollenden und liebevollen Einstellung. Hierzu dienen körperpsychotherapeutische Übungen zum liebevollen Umgang mit dem eigenen Körper. Hilfreich hat sich zum Beispiel die Spiegelexposition erwiesen. Dabei betrachten die Betroffenen das eigene Spiegelbild und die defizitär empfundenen Stellen unter therapeutischer Anleitung.

    Die Behandlung auf psychologischer Ebene sollte in professionellen Beratungs- und Therapiesettings erfolgen. Hier geht es um Kernthemen wie einen gesunden Selbstwert und dessen Quellen, das Wahrnehmen und Regulieren von Emotionen. Aber auch grundlegende therapeutische Übungen wie das Analysieren typischer Situationen und der Funktion der Störung stehen auf dem Plan. Ein Beispiel wäre eine selbstwertschädigende Situation an der Arbeit: Ein Projekt ist nicht gut gelaufen. Der Betroffene verbindet den Misserfolg mit Gedanken, ungenügend zu sein und nichts zu können. Er reagiert darauffolgend mit einem extra harten Training zur Erhöhung seines Selbstwertes und dem Beweisen von Stärke und Kompetenz im Sport. Ferner umfasst die psychologische Behandlung soziale und systemische Themen, etwa die Aufklärung über die Krankheit und Einbeziehung von Angehörigen sowie das Arbeiten am Familiensystem selbst.

    Behandlungsansätze für die Ernährungstherapie

    Nicht zuletzt spielt die ernährungstherapeutische Ebene eine Rolle bei der Behandlung. Das auf Muskelzuwachs optimierte strikte, zwanghafte Essverhalten ohne Hunger und Sättigung verstärkt die extremen, eingeengten Denkmuster. Zugleich verschlechtert es den Allgemeinzustand der Betroffenen. Hinzu kommen Stimmungsschwankungen, kognitive Schwierigkeiten und sozialer Rückzug. Durch eine Normalisierung des Essverhaltens lässt sich dieser Allgemeinzustand verbessern. Mit therapeutischer Unterstützung können die Betroffenen durch das gemeinsame Essen verbotener Lebensmittel und Erlernen von genussvollem Essen wieder ein gesundes Essverhalten nach Hunger und Sättigung erlangen. Konkret wird mit dem Klienten zusammen eine Liste an Lebensmitteln erstellt, die für ihn bislang tabu sind. Daraufhin wird eines der Lebensmittel ausgewählt, zum Beispiel ein Stück Schokolade, und in einer angeleiteten Genussübung verzehrt. Ergänzend dazu ist auch die Aufklärung über gesundes Essen und die Folgen einer einseitigen Mangelernährung sinnvoll. Mit einer engen Zusammenarbeit von Psychotherapeuten und spezialisierten Ernährungstherapeuten lassen sich hier aus unserer Erfahrung gute Erfolge erzielen.

    Therapieerfolg braucht Zeit

    Muskeldysmorphie ist eine relativ junge und wenig beforschte psychische Erkrankung. Auch wenn der Leidensdruck der Betroffenen oftmals von außen sehr hoch erscheint, ist die Krankheitseinsicht jedoch sehr gering. In der Behandlung hat sich die Kombination von unterschiedlichen Gruppen- und Einzelsettings bewährt. Ideal sind multiprofessionelle Behandlerteams aus Ernährungs-, Körper- und Psychotherapeuten. Auch wenn die Erkrankung oft sehr rigide wirkt und die Betroffenen sich anfangs wenig einsichtig zeigen, lassen sich gute Erfolge erzielen. Um hohe Rückfallquoten zu vermeiden, sind ein längerer Behandlungszeitraum und eine regelmäßige, gute Patientenanbindung in einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung wichtige Voraussetzungen.

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    Stichworte: Sportsucht, Muskelsucht, Psychologie, gestörte Selbstwahrnehmung, exzessives Krafttraining, Beratung, Training, Essen, Steroide, Ernährungstherapie


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    UGBforum 6/2020
    Gendermedizin: typisch Frau – typisch Mann


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