Mit Achtsamkeit zum Wunschgewicht

Viele Übergewichtige machen die bittere Erfahrung, dass Diäten langfristig nicht zum Ziel führen. Statt Kalorien zu zählen, müssen wir deshalb an die Ursache für fehlgesteuertes Essverhalten herangehen – und die liegt in uns selbst.

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Übergewicht hat zweifellos eine Menge mit der Kalorienbilanz zu tun: Nur wer mehr isst, als er verbraucht, nimmt zu. Wo aber liegt die tiefere Ursache für Gewichtsprobleme? Warum essen so viele Menschen mehr als ihnen gut tut? Und warum werden die Sättigungssignale des Körpers regelmäßig überhört? Die Antwort auf diese Fragen lässt sich weder in Nährwert- noch in Kalorientabellen finden. Der Schlüssel zur Lösung belastender Essmuster liegt nämlich nicht in der Zusammensetzung unserer Nahrung, sondern im eigenen Bewusstsein. Nicht „was“ wir essen, sondern „wie“ wir essen, macht den Unterschied. Und hier kommt das Thema Achtsamkeit ins Spiel. Heute ist der Begriff Achtsamkeit in aller Munde. Achtsamkeitsbasierte Methoden haben sich bewährt, um Stress zu reduzieren, Schmerzen zu lindern und Depressionen, Burnout oder Suchtverhalten entgegenzuwirken. Doch auch wenn es um die Ernährung und insbesondere um fehlgeleitetes Essverhalten geht, kann Achtsamkeit ganz Erstaunliches leisten.

Diäten kontra Achtsamkeit

In einer Metastudie aus den USA wurden mehr als 30 Langzeituntersuchungen zu unterschiedlichen Diätvarianten analysiert. Das Ergebnis war eindeutig. Ganz gleich wie die jeweils aktuelle Trenddiät auch heißen mag – auf lange Sicht hält kaum eine, was sie verspricht. Die meisten Diäten fordern eine radikale Umstellung der Ernährung und erzeugen damit Stress. Doch es gibt noch andere Gründe dafür, warum Diäten nicht funktionieren können:

– Diäten gehen nicht an die Ursachen: Sie wirken weder unbewusstem Essverhalten noch emotionalem Essen entgegen.
– Diäten machen Essen zum Feind. Sie sind auf das „Nein“ ausgerichtet – auf Verbote, Regeln und darauf, was wir alles nicht essen sollen. Unser natürliches Bedürfnis nach Genuss und Wohlbefinden bleibt dabei auf der Strecke. Stattdessen schüren Diäten das schlechte Gewissen.

Der Kampf gegen Übergewicht, der schnell zu einem Kampf gegen sich selbst wird, ist aussichtslos und zermürbend. Die Zeit für einen neuen Ansatz zur Veränderung belastender Ernährungsgewohnheiten ist daher mehr als reif geworden. Achtsamkeit bietet einen solchen neuen Ansatz. Beim achtsamen Essen lernen wir, harmonischer in und mit unserem Körper zu leben, statt gegen ihn anzukämpfen. Achtsamkeit zeigt einen Ausweg aus dem Zwang, Kalorien zu zählen und endlose Ernährungsregeln befolgen zu müssen.

Wieder genießen lernen

Wie bei allen anderen achtsamkeitsbasierten Methoden geht es auch beim achtsamen Essen vor allem um eines: Wir müssen lernen, aufzuwachen und die Augen zu öffnen – dafür, wie wir handeln, wie wir uns fühlen oder eben auch dafür, wie wir essen. Allzu oft befinden wir uns beim Essen im „Autopilot-Modus“. Wie ferngesteuert greifen wir dann beim Fernsehen in die Chipstüte, entspannen uns nach einem harten Arbeitstag mit einer extra großen Pizza oder trösten uns nach Konflikten mit Unmengen an Schokolade. Durch Achtsamkeit können wir lernen, die Kontrolle über unser Handeln (und Essen) wieder zu übernehmen. Dabei ist gar nicht so entscheidend, was wir essen, sondern vielmehr wie wir essen.

Dieser Beitrag ist im UGBforum 1/14 Gewicht - die richtige Balance erschienen.

Achtsamkeit ist eine jahrtausendealte Methode, die ursprünglich in der Meditationspraxis buddhistischer Mönche entwickelt wurde. Dennoch ist Achtsamkeit durchaus keine fernöstliche oder gar esoterische Angelegenheit, denn Achtsamkeit ist eine ganz normale Fähigkeit des menschlichen Geistes, die jeder von uns kennt. Wer achtsam ist, ist wach und präsent und auf entspannte Weise konzentriert; er kann den gegenwärtigen Augenblick offen und mit allen Sinnen wahrnehmen, ist gesammelt und ganz bei sich selbst. Kurz gesagt geht es bei Achtsamkeitsmethoden darum, innezuhalten, genau hinzusehen und sein Bewusstsein auf den jeweiligen Augenblick auszurichten. Es geht darum, einmal wirklich das zu tun, was wir gerade tun und wirklich das zu erleben, was wir gerade erleben. Und natürlich geht es auch darum, beim Essen ganz im Hier und Jetzt zu sein.

Achtsames Essen hilft:

  • den Unterschied zwischen Appetit und richtigem Hunger wieder wahrzunehmen.
  • zu entdecken, dass Essmuster viel mit Gefühlen und mit Stress zu tun haben.
  • wieder hellhörig für die Signale zu werden, die der Körper ständig sendet.
  • mitfühlender und verständnisvoller mit sich selbst umzugehen.
  • ruhiger, langsamer und bewusster zu essen und herauszufinden, wie viel (oder besser gesagt wie wenig) Nahrung wir eigentlich brauchen.
  • sich wieder mehr Zeit für das Genießen und somit für sich selbst zu nehmen.

Den Moment bewusst erleben

Achtsam zu sein ist zwar einfach, jedoch alles andere als selbstverständlich. Ist der Geist zerstreut – und das ist nicht nur beim Essen häufig der Fall – führt dies zu unbewussten Handlungen und ungesunden Ernährungsmustern. Dazu gehört beispielsweise die Angewohnheit, beim Autofahren, vor dem Fernseher oder dem Computer zu essen. Auch das Essen im Gehen oder unter Zeitdruck sowie die Gewohnheit, oft zwischendurch zu essen, führen auf Dauer schnell zu Gewichtsproblemen. Die Kultivierung der Achtsamkeit ermöglicht es uns, die Fernsteuerung auszuschalten und inneren Freiraum zu gewinnen, statt immer die selben, ausgetretenen Pfade zu benutzen. Es gibt vor allem drei schädliche Verhaltensmuster, die „schwer-wiegende“ Folgen haben:

1. Zu viel Ablenkung: Wir essen, während wir die Zeitung lesen, uns mit unserem Partner streiten, auf dem Smartphone nach interessanten Neuigkeiten suchen, mit jemandem telefonieren usw. Ablenkung und Zerstreuung sind im Alltag häufige Gründe dafür, dass wir quasi nebenbei essen – mit der Folge, dass wir kaum noch registrieren, was und wie viel wir eigentlich essen. Achtsames Essen bringt uns wieder mit dem gegenwärtigen Augenblick in Kontakt und hilft, uns wieder zu zentrieren.
2. Zu hastiges Essen: Ein weiterer häufiger Grund für Übergewicht liegt darin, dass zu schnell gegessen wird. Wer sich nicht die Zeit nimmt, sich hinzusetzen, zu kauen und wirklich zu schmecken, kann sein Essen auch nicht genießen. Zudem werden durch hastiges Essen Sättigungssignale überhört. Achtsamkeit hilft, den Essvorgang wieder zu entschleunigen.
3. Emotionales Essen: Belastende Gefühle wie Traurigkeit, Ärger, Einsamkeit oder Überforderung führen leicht dazu, dass das Essverhalten entgleist.

Aktuellen Schätzungen zufolge gehören rund 20 Prozent unserer Bevölkerung zu den sogenannten emotionalen Essern. Die Anzahl der Menschen, die Essen als Ersatz für seelische Bedürfnisse oder als „Entspannungsmethode“ in Stresssituationen nutzt, ist jedoch mit Sicherheit noch wesentlich größer. Wann immer die Lust auf Kalorienreiches dem inneren Hunger nach Harmonie entspringt und Heißhungerattacken sich anbahnen, sind Achtsamkeitsübungen Gold wert. Sie laden dazu ein, bei sich selbst anzukommen und einen gesunden Abstand zu seinen üblichen Reaktionen zu gewinnen. Auf diese Weise tragen sie dazu bei, das innere Gleichgewicht wiederzuerlangen. Und genau um dieses innere Gleichgewicht geht es bei achtsamkeitsbasierten Verfahren. Der Gewichtsverlust, der bei Übergewichtigen als natürliche Folge eines achtsameren Umgangs mit sich selbst eintritt, ist nur eine angenehme Nebenwirkung.

Achtsam Essen im Alltag

Achtsames Essen ist keine Crash-Diät. Ebenso wie man Geduld braucht, damit im Garten schöne Rosen gedeihen, braucht es einige Zeit, bis die Blüten der Achtsamkeit erblühen: Ruhe, Freude, Lebendigkeit und Leichtigkeit. Doch wichtiger als der schnelle Erfolg ist der dauerhafte und der ist zudem deutlich gesünder. Im Folgenden lernen Sie die Grund­übung „Achtsames Essen mit allen Sinnen“ kennen (siehe Kasten). Es geht darum, dass Sie alle Ihre Sinne mit einladen, wenn Sie sich an den Tisch setzen: Fragen Sie sich während des Essens, wie Ihre Mahlzeit aussieht, wie sie riecht, wie sie sich anfühlt. Falls es sich nicht anbietet, die Speisen anzufassen, können Sie immer noch ein Gefühl für Ihr Essen im Mund entwickeln. Und achten Sie natürlich auch besonders darauf, wie etwas schmeckt. Bei dieser Übung ist es wichtig, alle Rezeptoren zu aktivieren und sein Essen möglichst intensiv zu genießen. Im Grunde können Sie die Übung überall und immer anwenden – doch es gibt eine Grundregel: Setzen Sie sich zum Essen hin, laufen Sie nicht herum. Schalten Sie zudem alle Ablenkungen wie Fernseher, Radio und Handy aus, und entfernen Sie Zeitungen und Zeitschriften aus Ihrer Nähe.

Anfangs ist es am einfachsten, das achtsame Essen ungestört zuhause zu üben – und zwar alleine. Später können Sie die Technik überall einsetzen. Um achtsames Essen zu trainieren, genügt es, sich dafür gezielt einige Mahlzeiten in der Woche auszusuchen. Sie werden feststellen, wie oft wir vergessen, beim Essen achtsam zu sein. Das macht gar nichts und ist ganz normal. Wichtig ist nur, immer wieder zur Grundübung zurückzukehren, denn so wird sich die Achtsamkeit mit der Zeit ganz von selbst entwickeln.

Übungen zur Achtsamkeit

  1. Der Blick des Malers: Setzen Sie sich zum Essen hin und atmen Sie einige Male entspannt durch. Nehmen Sie sich dann mindestens drei Atemzüge lang Zeit, um Ihr Essen anzusehen. Registrieren Sie aufmerksam die Farben, Formen und Zusammenstellung der Speisen. Stellen Sie sich vor, Sie wollten ein Stilleben von Ihrem Essen malen – entwickeln Sie den Blick eines Malers.
  2. Fingerspitzengefühl: Falls möglich berühren Sie Ihre Nahrungsmittel mit der Hand, beispielsweise bei Brot, Obst, Fingerfood oder Rohkost. Fühlt sich das Essen weich oder hart, sanft oder rau, kalt oder warm, trocken oder feucht an?
  3. Hineinschnuppern: Versuchen Sie nun, das Essen über Ihren Geruchssinn aufzunehmen. Schnuppern Sie an Ihrem Essen. Können Sie bestimmte Aromen, Gewürze oder Kräuter ausmachen? Riecht Ihr Essen eher fruchtig, süß, scharf, herb, deftig oder sauer? Versuchen Sie möglichst viele Nuancen „herauszuriechen“.
  4. Der erste Bissen: Nehmen Sie dann einen Bissen in den Mund, ohne ihn hinunterzuschlucken. Kauen Sie noch nicht. Spüren Sie zunächst nur, wie sich die Speise im Mund anfühlt. Bewegen Sie das Essen im Mund hin und her. Können Sie die Konsistenz der Speise mit der Zunge oder dem Gaumen wahrnehmen?
  5. Mundgefühl: Beginnen Sie dann, zu kauen – langsam und gründlich. Spüren Sie, wie das Essen sich zwischen Ihren Zähnen anfühlt. Spüren Sie, wie es sich mit Speichel vermischt und dabei immer breiartiger und schließlich flüssiger wird. Wie verändert sich der Geschmack während des Kauens? Es kommt dabei nicht darauf an, möglichst lange zu kauen und die Kaubewegungen zu zählen. Konzentrieren Sie sich stattdessen ganz auf das Gefühl, das die Speise durch die Berührung mit Zähnen, Zunge und Gaumen im Mund erzeugt.
  6. Bewusst Schlucken: Irgendwann werden Sie sicher den Impuls verspüren, Ihr Essen hinunterzuschlucken. Achten Sie darauf, wann dieser Impuls genau auftritt. Richten Sie Ihre Achtsamkeit auf den Schluckreflex und dann auf den Schluckakt. Schlucken ist ein komplexer Vorgang, bei dem unter anderem Mund, Zähne, Kiefergelenke, Mundspeicheldrüsen, Rachen, Kehlkopf und Speiseröhre beteiligt sind. Natürlich müssen Sie nicht Anatomie studieren, doch vielleicht können Sie beim Schlucken noch wesentlich mehr spüren, als Sie bisher gedacht haben.
  7. Weg der Nahrung: Wie weit können Sie den Weg Ihrer Nahrung mitverfolgen? Spüren Sie Ihr Essen nur im Mund, oder auch noch im Rachen, in der Speiseröhre oder womöglich sogar im Magen?
  8. Üben Sie: Wiederholen Sie den gesamten Ablauf des achtsamen Essens mindestens während der ersten fünf Bissen Ihrer Mahlzeit – schauen, tasten, riechen, schmecken, spüren. Wie fühlen Sie sich, wenn Sie Ihr Essen auf diese Weise zu sich nehmen? Fällt es Ihnen leicht, werden Sie ungeduldig oder fühlt es sich gut an? Es kommt nicht darauf an, welche Gefühle auftauchen, sondern nur darauf, achtsam wahrzunehmen, was geschieht.

Quelle: Schweppe R. UGB-Forum 1/14, S. 13-16

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