Besser leben mit Multipler Sklerose
Interview mit Dipl.oec.troph Gudrun Werner

Der Einfluss der Ernährung auf Multiple Sklerose wird unter Experten kontrovers diskutiert. Gudrun Werner (s. Foto) arbeitete viele Jahre als Ernährungstherapeutin in einer Fachklinik für MS und ist Co-Autorin des Ratgebers "Gesund und bewusst essen bei Multipler Sklerose". Wir fragten die Diplom-Oecotrophologin, was es mit der Krankheit auf sich hat und wie eine günstige Ernährung aussehen sollte.

Multiple Sklerose und Ernährung

Was genau ist Multiple Sklerose?

Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Dabei sind bestimmte Teile der Nervenfasern andauernd entzündet, was zu einem unwiederbringlichen Verlust von Nervengewebe führt. Diese Entzündung gilt es einzudämmen. MS wird den Autoimmunerkrankungen zugeordnet. Sie hat sehr unterschiedliche Symptome und wird deshalb auch als die "Krankheit mit den 1000 Gesichtern" bezeichnet. Ein typisches Phänomen ist die schnelle Ermüdung der Patienten, auch "MS-Fatigue" genannt. Diese ist oft belastender als die mit der Krankheit einhergehenden Lähmungen oder Gehstörungen. Häufig kommt es zu Missempfindungen wie Ameisenlaufen, Taubheits- und Gürtelgefühl. Auch Gleichgewichtsprobleme mit gestörter Koordination bis hin zu Drehschwindel beeinträchtigen die Patienten. Mindestens ebenso belastend sind Sehstörungen wie Doppelbilder. Auch Spastiken, also Muskelverkrampfungen, Sprach- und Schluckprobleme und Funktionsstörungen der Blase sind nicht selten.

Wie viele Bundesbürger sind von Multiple Sklerose betroffen?

In Deutschland leiden rund 130.000 Menschen an Multipler Sklerose. Die Krankheit beginnt meist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr, wobei Frauen etwa doppelt so häufig betroffen sind wie Männer. In 20 bis 40 Prozent der Fälle nimmt die Erkrankung einen gutartigen Verlauf, das heißt, die Betroffenen haben nach zehn Jahren Krankheitsgeschichte keine oder nur mäßige Behinderungen.

Wie sieht der Krankheitsverlauf aus?

MS verläuft in Schüben oder fortschreitend. Von einem Schub spricht man, wenn neue Symptome auftreten oder sich frühere wieder deutlich verstärken. Anschließend können die Beschwerden mehr oder weniger vollständig nachlassen. Die Hälfte der schubförmigen Verläufe geht später in einen sich fortschreitend verschlechternden Zustand über. Bei etwa zehn Prozent verläuft die MS von Anfang an schnell, das heißt, der Zustand des Patienten verschlechtert sich stetig. Einen Schub können zum einen Virusinfekte, Impfungen, Unfälle, Operationen oder die Stillzeit auslösen. Zum anderen können auch einfach nur Sonneneinwirkung, Hitze oder seelische und körperliche Überforderung dafür verantwortlich sein.

Kennt man die Ursache von Multiple Sklerose?

Die genaue Ursache ist nicht bekannt. Viren stehen in Verdacht, bei der Entstehung eine Rolle zu spielen. Eine schwache genetische Veranlagung ist gegeben. Den entscheidenden Anteil hat jedoch das Immunsystem. Gelingt es, die Entzündung der Nerven zu hemmen, kann der Verlust von Nervengewebe verhindert bzw. verzögert werden.

Kann die Ernährung hierbei helfen?

Eine bewiesenermaßen wirksame diätetische Therapie gibt es nicht. Eine vollwertige Ernährung kann aber die Entzündung und den dabei entstehenden oxidativen Stress durch freie Radikale positiv beeinflussen. Auch häufige Begleiterscheinungen wie Übergewicht, Blasen- und Darmprobleme oder schnelle Ermüdung lassen sich durch die richtige Kost verringern. Untersuchungen haben gezeigt, dass eine bedarfsgerechte Kalorienaufnahme das Immunsystem entlastet. Da die Betroffenen oft in ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit eingeschränkt sind, benötigen sie weniger Energie - außer sie leiden unter einer starken Spastik, dann ist der Bedarf erhöht. Um Müdigkeit vorzubeugen, ist eine leichte Kost mit viel Gemüse, Obst und Vollgetreide, wenig Fett und Eiweiß von Vorteil. Da die Betroffenen auf diese Weise auch viele Ballaststoffe aufnehmen, kommt gleichzeitig der meist etwas träge Darm wieder in Schwung.

Eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr ist zur Verhinderung und Behandlung von Harnwegsinfekten wichtig. Viele MS-Betroffene trinken zu wenig, um nicht so oft zur Toilette zu müssen. Die Blase reagiert zudem empfindlich, wenn sie schnell gefüllt wird. Daher ist es besser, die empfohlenen 1,5 bis zwei Liter gleichmäßig glasweise über den Tag verteilt zu trinken.

Fettsäuren beeinflussen entzündliche Prozesse im Körper. Was ist bezüglich der Fette zu beachten?

Das ist ein wichtiges Thema. Denn Fette üben den größten Einfluss auf das Immunsystem aus. Allgemein sollte die Fettaufnahme 25 bis 30 Prozent der gesamten Energiezufuhr betragen. Bei 2000 kcal entspricht das 55 bis maximal 70 Gramm Fett am Tag. Dabei ist es günstig, wenn tierische Fette nur einen geringen Anteil haben. Denn es hat sich gezeigt, dass in "Butter-Regionen", in denen viel Fleisch, Käse, Sahne, Butter oder Wurst verzehrt werden, generell mehr neue MS-Erkrankungen auftreten als in "Öl-Regionen", die bevorzugt Seefisch, Gemüse, Pflanzenöl, Nudeln und Reis essen. Eine Erklärung dafür liefert die in tierischen Lebensmitteln vorkommende Arachidonsäure. Sie hat eine Schlüsselfunktion im Entzündungsgeschehen, weil sie Ausgangssubstanz für entzündungsfördernde Botenstoffe ist. Im Körper wird sie aus Linolsäure gebildet oder mit der Nahrung aufgenommen. Besonders reich an Arachidonsäure sind Eigelb, Fleisch, Innereien, Fisch, Butter und Haut - auch die knusprige Hähnchenhaut. Milch und Milchprodukte sind relativ arm an Arachidonsäure. Um nicht zu viel Energie aufzunehmen, sollten fettarme Varianten bevorzugt werden. Pflanzliche Lebensmittel enthalten generell keine Arachidonsäure. Einen entzündungshemmenden Effekt haben die in Fischöl enthaltenen Omega-3-Fettsäuren. Auch einige pflanzliche Öle wie Leinöl oder Rapsöl enthalten diese positiv wirkenden Substanzen.

Verschiedene Diäten sollen bei Multiple Sklerose helfen, z. B. die Diät nach Fratzer, Swank oder Evers. Wie bewerten Sie diese?

Bei der Diät nach Dr. Fratzer wird die Zufuhr von Linolsäure auf maximal 1800 Milligramm pro Tag beschränkt, weil aus dieser Arachidonsäure aufgebaut werden kann. Neuere Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass der menschliche Organismus die Linolsäure kaum zu Arachidonsäure umbaut. So weisen Vegetarier, die durch ihre pflanzliche Ernährungsweise höhere Linolsäurespiegel haben, im Vergleich zu Mischköstlern dennoch niedrigere Arachidonsäurespiegel auf. Die Empfehlung, die Linolsäurezufuhr zu reduzieren, ist damit hinfällig.
Dr. Swank verfolgt den Ansatz, durch eine verminderte Zufuhr tierischer Fette auf unter 20 Gramm pro Tag die Krankheit positiv zu beeinflussen. Eine Diätstudie, die bis zu 35 Jahre lang lief, zeigte Erfolge. Die Patienten, die dies befolgten, hatten im Vergleich zu der Kontrollgruppe weniger Schübe und ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich weniger.
Dr. Evers, der um 1940 Umweltfaktoren für MS verantwortlich machte, propagierte eine naturbelassene Ernährung. Außerdem legte er großen Wert auf eine gesunde Lebensführung mit viel Frischluft, Bewegung sowie Kneipp-Anwendungen. Der hohe Anteil an pflanzlicher Kost, Ballaststoffen und pflanzlichen Ölen ist aus heutiger Sicht sinnvoll. Die Annahme, dass die Zubereitung der Speisen wie das Kochen die Erkrankung ungünstig beeinflusst, ist allerdings nicht haltbar. Den neueren Erkenntnissen entsprechend wird die Evers-Diät heute als lacto-vegetabile Vollwertkost angeboten, ohne festzulegen, wie viel roh und wie viel erhitzt gegessen werden soll. Sehr verbreitet ist auch das Primrose Öl, das von Judy Graham empfohlen wurde. Das Öl der gelben Schlüsselblume ist reich an Linolsäure. Spezielle Kapseln mit diesem Öl bieten aber keine besonderen Vorteile.

Auch Selen oder Eisen und einige Vitamine sollen positiv wirken. Empfehlen Sie, diese zusätzlich zuzuführen?

Obwohl mit einer vollwertigen Ernährung normalerweise ausreichend Nährstoffe aufgenommen werden, scheint eine zusätzliche Einnahme von Omega-3-Fettsäuren, zum Beispiel über Lebertran oder Fischölkapseln, zusammen mit Vitamin E und Selen sinnvoll zu sein - auch wenn ein Nutzen nicht bewiesen ist. Ob die vermehrte Zufuhr von Antioxidanzien einen Nutzen hat, ist noch nicht ausreichend erforscht. Einiges spricht jedoch dafür. So sind Gehirn und Rückenmark dem "oxidativen Stress", den freie Radikale im Organismus verursachen, besonders ausgeliefert. Denn sie enthalten wenig Radikalfänger. Die Einnahme von Vitamin C ist bei Harnwegsinfekten zur Ansäuerung des Urins empfehlenswert. Eisen sollte dagegen nicht supplementiert werden. Denn eine erhöhte Eisenzufuhr kann die Entzündung verstärken.

Frau Werner, wir danken Ihnen für das Interview.

Quelle: UGB-Forum 2/02, S. 69-71