Ernährungspyramiden unter der Lupe

Prof. Dr. rer. nat. Claus Leitzmann

Was sollen wir essen? Wie viel von welchen Lebensmitteln ist gesund? Um Ernährungsempfehlungen für Verbraucher anschaulich zu vermitteln, kursieren zahlreiche Ernährungspyramiden. Doch viele Modelle sind umstritten.

Abb. 1: Die Ernährungspyramide des US-Landwirtschaftsministeriums ist das
weltweit bekannteste Pyramidenmodell.

Die alten Ägypter würden sich freuen - oder auch nicht. Derzeit haben wir es mit einer wahren Pyramidenflut zu tun. Viele Experten, Institutionen und Firmen fühlen sich berufen, eigene Ernährungspyramiden zu entwickeln, mit dem Ziel, ihre Empfehlungen zur Lebensmittelauswahl verbrauchernah darzustellen. Dabei ist das Modell eines Ernährungskreises besonders geeignet, um die empfohlenen Lebensmittelmengen optisch darzustellen. So setzen beispielsweise der aid infodienst und die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) einen solchen Ernährungskreis ein. Dennoch hat sich die Pyramide in unzähligen Ausprägungen durchgesetzt. An die 100 Varianten sollen inzwischen existieren. Es gibt internationale, nationale, regionale, ethnische, mediterrane, ernährungsmedizinische, vegetarische, vegane und "sportliche" Ausführungen. Inhaltliche Unterschiede ergeben sich primär dadurch, wer die wissenschaftlichen Daten bewertet und in wie weit die verschiedenen Lebensbedingungen der Zielgruppe einbezogen werden. Je nach Wissenschaftsdisziplin richten die Pyramiden-Autoren ihr Hauptaugenmerk auf unterschiedliche Aspekte. So sehen Pyramiden für den Durchschnittsbürger anders aus als für Kinder, Herzkranke oder Diabetiker.

Expertenstreit um das richtige Modell

Angestoßen durch ein Buch des Harvard-Professors für Epidemiologie Walter Willett hat die Diskussion um die Pyramide gegenwärtig einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Der US-Forscher stellt die weltweit bekannteste Pyramide (siehe Abb. oben), die vom Landwirtschaftsministerium der USA (USDA) 1992 veröffentlicht wurde, in fast allen Aspekten massiv in Frage. Die Auseinandersetzungen zwischen den Ernährungsexperten um die beste Pyramide fördert sicher deren Optimierung. Aber der bereits verwirrte Verbraucher kann mit den vielen, immer schneller erscheinenden und sich teilweise widersprechenden Abwandlungen nicht Schritt halten. Selbst Ernährungsberater kommen ins Schleudern.

Professor Günter Eissing von der Universität Dortmund berichtet davon, dass die Pyramide als Darstellungsform besonders einprägsam ist und zumindest bei Schulkindern den Lernzuwachs stark fördert. Der grundsätzliche Schwachpunkt von Pyramiden besteht aber darin, dass die am wenigsten gewünschten Lebensmittel an der Spitze erscheinen, als seien sie "Spitze". Das aber genau ist nicht der Fall. Deshalb wäre die Pyramide eigentlich auf den Kopf zu stellen, wie es auch schon versucht wurde. Damit würde aber wohl das ganze Thema auf die Spitze getrieben. So wurde diese "Kopfstand-Variante" auch nicht weiter entwickelt. Bei der Pyramide, die auf den Füßen steht, erscheinen die wichtigsten Lebensmittelgruppen an der Basis. Wie viel von den einzelnen Gruppen verzehrt werden sollte, wird durch die Fläche der Segmente angedeutet. Doch entspricht die Größe tatsächlich nur selten den genauen Mengenempfehlungen.

Ernährungskreise waren Vorläufer der Pyramiden

Die ersten graphisch aufbereiteten Ernährungsempfehlungen wurden in Kreisform dargestellt. Vorläufer des Ernährungskreises dürften bereits im 19. Jh. aufgekommen sein. Der erste dokumentierte Ernährungskreis erschien in Deutschland 1954 (Aldenhoven). Er enthielt neben den verschiedenen Lebensmitteln weitere Angaben zu Hauptnährstoffen, Vitaminen und Energiegehalt. Der Ernährungskreis "The basic 7 food groups" stammt aus den USA. In der deutschen Übersetzung von "Die guten Sieben" (Spies 1956) erscheinen die Nahrungsmittelgruppen als jeweils gleich große Segmente. Diese Form der Darstellung prägte alle Ernährungskreise bis Anfang der 1990er Jahre. Lediglich Vertreter der Vollwert-Ernährung entwickelten 1981 einen abweichenden Ernährungskreis, der Empfehlungen für die Verzehrsmengen an unerhitzter Frischkost und erhitzter Kost angab. Erst Anfang der 1990er Jahre begann eine Differenzierung in einzelne Lebensmittelgruppen durch eine zunächst unspezifische Größe der Segmente. Eine genauere Größe der Segmente entsprechend der empfohlenen Verzehrsmengen wird erst seit 2001 vom aid publiziert.

Liebling der Ernährungsberatung

Die erste Ernährungspyramide kam 1980 nicht aus dem Orient, sondern aus dem alten Europa, nämlich aus Schweden. Aber erst eine Pyramide aus der neuen Welt machte diese Darstellungsform 1992 weltweit bekannt: In der Pyramide des US-Landwirtschaftsministeriums (USDA) sind sieben Lebensmittelgruppen auf vier Ebenen verteilt. Diese Form wurde Vorbild für alle weiteren Ernährungspyramiden, die in großer Vielfalt je nach Anliegen der "Architekten" und Auslegung der wissenschaftlichen Daten entstanden. Abweichende und teilweise interessante Pyramiden haben zum Beispiel eine dreidimensionale Anordnung, um den Getränken eine eigene Plattform einzuräumen. Außerdem entstanden Pyramiden für warme, kalte und Zwischen-Mahlzeiten, in der die Lebensmittel und ihre wichtigsten Nährstoffe auf drei bis fünf Ebenen angeordnet sind.

Pyramiden sind von Natur aus sehr stabil, trotzdem werden sie teilweise demontiert. Harvard Professor Willett lässt jedenfalls kein gutes Haar an der USDA-Pyramide. Seine eigene Ernährungspyramide soll den aktuellen epidemiologischen Daten großer Langzeitstudien Rechnung tragen. So sollen rotes Fleisch und fette Milchprodukte als Träger gesättigter Fettsäuren nur selten verzehrt werden. Ungesättigte Fettsäuren in Form von Pflanzenölen, Fisch, Samen oder Nüssen könnten dagegen praktisch uneingeschränkt gegessen werden. Willett möchte die Fettqualität der Ernährung verbessern, bei der Fettquantität ist er sehr liberal. Unter anderem wegen der Ballaststoffe empfiehlt er den reichlichen Verzehr von Gemüse, Obst und Vollkornprodukten; ebenso rät er zu Salzwasserfischen. Wegen des ungünstigen Einflusses auf den glykämischen Index (Blutzuckerwirksamkeit) soll der Verzehr von Kartoffeln, Reis und Nudeln stark eingeschränkt werden. Den Konsum von Milch und Milchprodukten rät Willett zu reduzieren, da es keinen Calciummangel gebe und ohnehin zu viel tierisches Protein zugeführt werde.

Alte Pyramiden im Kreuzfeuer

Soweit die Empfehlungen von Willett. Und damit beginnt der Streit, besonders wenn seine Pyramide mit der "LOGI-Pyramide" seines Harvard-Kollegen David Ludwig verwechselt wird. Die Empfehlungen von Ludwig sind ausdrücklich für Diabetiker und Übergewichtige konzipiert. In modifizierter Form wird seine Pyramide inzwischen auch in Deutschland verbreitet. Willett begründet seine radikale Abkehr von der bekannten Ernährungspyramide der USDA mit gesundheitsschädigenden Empfehlungen, die nach seiner Auffassung auf zu einfachen Überlegungen beruhen und kommerziell geprägt sind. Zusammengefasst kritisiert er vor allem folgende Punkte:USDA: Alle Fette sind ungünstigWillett unterscheidet zwischen ungünstigen Fetten, wie gesättigten Fettsäuren und Trans-Fettsäuren, und günstigen Fetten, wie einfachen und mehrfach ungesättigten Fettsäuren.USDA: Alle komplexen Kohlenhydrate sind günstigWillett differenziert zwischen einfachen sowie bestimmten ungünstigen komplexen Kohlenhydraten wie Kartoffeln, Nudeln, Bananen oder Karotten und günstigen komplexen Kohlenhydraten, zum Beispiel Vollkornprodukten und Hülsenfrüchten.USDA: Protein ist gleich ProteinWillett unterscheidet Proteine besonders nach ihren Begleitsubstanzen. Nach seiner Auffassung sind pflanzliche Proteine deutlich günstiger einzustufen als tierische Proteine.USDA: Milchprodukte sind lebenswichtigWillett stellt in der US-amerikanischen Bevölkerung keinen Mangel an Calcium fest. Calcium kann mit anderen Lebensmitteln in ausreichender Menge aufgenommen werden. Außerdem behauptet Willett aufgrund seiner epidemiologischen Studien, dass ein hoher Verzehr von Milchprodukten Eierstock- und Prostatakrebs fördern kann.USDA: Kartoffeln sind günstigWillett warnt vor der blutzuckersteigernden Wirkung der Kartoffelstärke und den meist üppigen Zulagen in Form von fettigen Saucen sowie Pommes frites und Chips.

Ferner bemängelt Willett fehlende Hinweise zu Körpergewicht, körperlicher Aktivität, Alkohol und Vitaminen in den Ernährungsempfehlungen der USDA. Er hält die Einhaltung des Normalgewichts für bedeutsam, sieht in einer täglichen mäßigen Alkoholzufuhr gesundheitliche Vorteile und weist auf die Sicherheit durch Multi-Vitamintabletten hin.

Beeinflusst die Industrie die Empfehlungen?

Willett macht geschickte Lobbyisten der starken Fleisch-, Milch- und Zuckerindustrie in den USA für diese massiven Fehlinformationen verantwortlich. Ihnen liege nicht die Gesundheit der Menschen am Herzen, sondern ihr eigener Profit. Diese vernichtende Kritik hat besonders die Hersteller von Lebensmitteln tierischer Herkunft aufgebracht. Sie sehen ihre Produkte diskriminiert und finden Unterstützung durch Berichte, die gerade den Verzehr von Fleisch- und Milchprodukten als besonders günstig erscheinen lassen. Proteinreiche Diäten wie die Atkins-Diät, die viele tierische Produkte enthalten, unterstützen diesen Trend, weil sie kurzfristig eine Reduktion des Körpergewichts erleichtern können. Doch die langfristigen Folgen einer solchen proteinreichen Diät bei körperlich inaktiven Wohlstandsbürgern sind bekannt: Die aus dieser Ernährungsweise resultierenden ernährungsabhängigen Krankheiten wie Herz-Kreislauferkrankungen oder Krebs sind weit verbreitet und liegen in der Statistik der Todesursachen prominent an erster Stelle.

Kritik an US-Pyramideüberwiegend berechtigt

Aus Sicht der Vollwert-Ernährung enthält die Pyramide von Willett viele zeitgemäße Aspekte, aber auch einige Schwachstellen. Diese liegen unter anderem darin, dass Willett seine Daten in Studien mit US-Amerikanern gewonnen hat. In bestimmten Bereichen bestehen (noch) erhebliche Unterschiede in der Ernährung von US-Amerikanern und Deutschen. So müssen in "Vollkornprodukten" in den USA nur 51 Prozent Vollkornmehl enthalten sein, bei uns hingegen mindestens 90 Prozent. Oft sind die amerikanischen Vollkornwaren auch nur aus dunkleren Mehlen hergestellt. Ferner gehen die Konsumenten in den USA anders mit Nahrungsergänzungsmitteln um. Willetts Empfehlung, zur Sicherheit täglich eine Multi-Vitamintablette einzunehmen, zeigt sein Misstrauen gegenüber der US-Kost. Deutsche Ernährungsexperten halten solche Präparate dagegen für gesunde Menschen, die sich abwechslungsreich ernähren, für überflüssig. Willett verkennt zudem, dass der glykämische Index nach Verzehr einzelner Lebensmittel deutlich höher ausfällt, als bei den gleichen Lebensmitteln im Rahmen einer Mahlzeit. In Deutschland wurden nach dem Krieg Berge von Kartoffeln gegessen, ohne die Diabetesrate zu erhöhen. Im klassischen Kartoffelland Irland gibt es nicht mehr Diabetiker als in Ländern mit Kartoffelmuffeln. Auch Reis verliert zum Teil seine blutzuckererhöhende Wirkung innerhalb einer Mahlzeit, besonders als Naturreis. Im Übrigen finden sich in Ländern mit einem hohen Reisanteil auf dem Speiseplan bisher deutlich weniger Diabetiker als bei uns.

Dagegen sind Willetts Schlussfolgerungen, Milch- und Milchprodukte weniger Bedeutung beizumessen, weil die Calciumversorgung auch ohne diese sichergestellt werden kann, aus Sicht der Vollwert-Ernährung nachvollziehbar. Seine These zur Krebsentstehung durch Milchprodukte dürfte aber nur bei sehr hohem Konsum zutreffen. Überraschenderweise äußert er sich kaum zu den gesättigten Fettsäuren und zum Cholesterin in Milchprodukten.

Eine Pyramide zur Vollwert-Ernährung?

Insgesamt ist festzustellen, dass eine gründliche Überarbeitung der USDA-Pyramide tatsächlich dringend erforderlich ist. Kommerzielle Interessen dürfen keine Rolle spielen und neue Erkenntnisse müssen berücksichtigt werden. Diese Erkenntnisse dürfen aber nicht auf Einzelbeobachtungen beruhen, sondern müssen sich im Laufe der Zeit erhärten. Außerdem darf das Ziel Übergewicht abzubauen, nicht die primäre Leitlinie sein. Deshalb sollte der Umbau nur mit gesicherten Elementen vorgenommen werden. Vielleicht geht Willett etwas zu weit, denn epidemiologische Daten geben Hinweise, stellen aber noch keine Beweise dar.

Eine zusammenfassende Bewertung der bisherigen Ernährungspyramiden führt zu einer fast zwingenden Schlussfolgerung und der Frage: Wo ist die Pyramide zur Vollwert-Ernährung? Bisher haben die Vollwert-Experten es nicht als notwendig erachtet, für die Vollwert-Ernährung eine eigene Pyramide zu erstellen. Statt dessen liefert eine Orientierungstabelle Verbrauchern und Ernährungsberatern einen übersichtlichen Leitfaden. Die Tabelle unterteilt die Lebensmittel in vier Wertstufen: von sehr empfehlenswert bis nicht empfehlenswert. Besondere Berücksichtigung findet der Verarbeitungsgrad. Nicht bzw. mäßig verarbeitete Lebensmittel sind deshalb in den ersten beiden Wertstufen zu finden. Sie sollten jeweils etwa die Hälfte der Nahrungsmenge ausmachen. Auf konkrete Mengenangaben wurde verzichtet, weil die Vorlieben, Abneigungen und Gewohnheiten des Verbrauchers berücksichtigt werden sollten. Die vielen Diskussionen um die richtige Pyramide und die Verunsicherung der Bevölkerung hat aber dazu angeregt, eine allgemeine Ernährungspyramide zu entwerfen, bei der die Vollwert-Ernährung sowie die Empfehlungen anderer Fachinstitutionen aufgenommen werden. Das UGB-Forum wird Sie über die Ergebnisse informieren.

Quelle: Leitzmann, C. UGB-Foum 3/04, S. 140-143