Essen – ein Beziehungsthema

Eltern können entscheidend dazu beitragen, dass ihre Kinder eine gute Beziehung zum Essen aufbauen. Dazu müssen sie die Sprache und die Bedürfnisse des Säuglings kennenlernen und bereit sein, ihre eigene Essbiografie zu reflektieren.

Essbeziehung

© E. Pawlowska/123RF.com

Essen hat etwas mit Beziehung zu tun: mit Beziehung zu mir, zu den Menschen, die mir Essen geben, sowie zu denjenigen, mit denen ich esse und von denen ich das Essen lerne. Und mit Beziehung zu den Lebensmitteln selbst. Diesen Beziehungsaufbau können Eltern unterstützen. Denn der erste Schluck Milch im Arm der Mutter, der erste Löffel Gemüsemus auf dem Schoß des Vaters sowie das erste Butterbrot am Familientisch prägen das Essverhalten des Nachwuchses nachhaltig. Richtig an das Essen herangeführt, kann ein Kind eine positive, gelassene und individuelle Beziehung zum Essen aufbauen.

Wir essen jeden Tag und das mehrere Male, der Säugling sogar 12- bis 14-mal in 24 Stunden. So ist essen eigentlich das Natürlichste der Welt und gehört zu den grundlegenden Bedürfnissen des Menschen. Wenn wir essen und verdauen, wird das parasympathische Nervensystem aktiv, der Teil des Nervensystems, der die Körperentspannung reguliert. So kann Essen beruhigen und Zufriedenheit erzeugen. Gemeinsam essen gehört überall auf der Welt und in allen Kulturen zum Ritual des Zusammenlebens: Gemeinsam zu essen schafft beziehungsstarke Momente.

Essen und Emotionen sind von Anfang an verbunden

Essen wird mit unterschiedlichen Gefühlen in Verbindung gebracht. Beim Säugling ist die Aufnahme von Nahrung nicht nur Sättigung, sondern auch innige Liebe und Fürsorge. So wird beim Stillen der emotionale und physiologische Hunger zeitgleich gesättigt. Denn Stillen bedeutet mehr, als die Brust mit Muttermilch oder die Flasche mit Formulanahrung zu geben.

Dieser Beitrag ist im UGBforum 2/16 Babys Best: Update Säuglingsernährung erschienen.

In den ersten Wochen und Monaten kann der Säugling zwischen seinem Verlangen nach Nahrung und dem Verlangen nach Liebe und Beziehung nicht unterscheiden. Die Aufgabe der Eltern ist es, im Laufe der Entwicklung ihres Kindes diese Einheit zu lockern, indem sie ihrem Kind unterschiedliche Angebote machen und die Reaktion ihres Kindes abwarten und verstehen lernen. Säuglinge weinen in den ersten Monaten, weil sie sich im Zustand der Unordnung befinden. Erst über das Angebot der Eltern – ob Spielen, Singen, Wiegen oder Milch geben – erkennen sie ihr eigentliches Bedürfnis.
So wie die Hirnareale sich nach und nach entwickeln, wachsen und differenzieren sich auch die Bedürfnisse des Säuglings. Werden diese Bedürfnisse dann adäquat beantwortet, fühlt sich das Kind bestätigt und reagiert freudig, was wiederum die Eltern beglückt und die Beziehung festigt. Die Antwort auf seelischen Hunger ist Kontakt und Kommunikation, die auf physischen Hunger Kalorien.

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Wird Weinen und Unruhe des Säuglings überwiegend mit Nahrung beantwortet, kann es möglicherweise zur Vermischung und Verwechslung emotionaler Bedürfnisse kommen. Wenn die Suche des Säuglings nach Liebe stets mit Essen beantwortet wird, verwechselt er irgendwann Liebe mit Essen oder spürt über Essen Liebe und Zuneigung. Das Kind lernt nicht, seine inneren Reize zu differenzieren und wird so möglicherweise ein Leben lang Missempfindungen mit Essen beantworten. Unangenehme Gefühle werden dann weggegessen oder auch weggehungert. Die Empfehlung, nach Bedarf zu stillen, führt nicht selten dazu, dass die Säuglinge bei jedem Unruhezeichen angelegt werden. Stillen nach Bedarf heißt aber, dann zu stillen, wenn das Kind physiologisch hungrig ist. Es ist die Sorge aller Eltern, das Kind könnte nicht satt werden, die dazu führt, jedes Unwohlsein des Kindes erst einmal mit Milch zu sättigen. So manch ein Kind ist damit überfordert, fühlt sich nicht verstanden, mag sich nicht „bevormunden“ lassen und zeigt deutliche Abwehr gegenüber der Brust oder der Flasche. Dies ist die erste frühe Form der Kommunikation des Säuglings: Hier ist etwas in Unordnung!

Eltern prägen die Essbeziehung des Kindes

Das Essverhalten der Eltern hat sehr viel mit dem des Kindes zu tun. Auch nimmt es möglicherweise großen Einfluss auf die Essbeziehung des Kindes. Kinder spüren, wenn ihre Eltern belastet sind und umgekehrt.
Wenn die Mutter das erste Mal ihr Kind stillt, sollte es ungestört die Brust suchen können. Der zweite Stillkontakt kann dann durch professionelle Hilfe angeleitet werden. Durch diesen intensiven Hautkontakt spürt das Kind sich selbst und seinen Körper. Wird das Gefühl des Ich selbst von den Eltern unterstützt und ermöglicht, zu sein, wie man ist, fördert dies die seelische Gesundheit des Kindes. Essen ist an die seelische Gesundheit fest gekoppelt: Geht es mir gut, bin ich bereit, die Welt über die Nahrung aufzunehmen. Bereits im Säuglingsalter kann ein Beziehungskonflikt auf der Körperebene sichtbar werden, zum Beispiel über Erbrechen, Verstopfung, Nichtessen oder Schreien. Ein Kind zeigt nach außen genau, was innen vorgeht. Kinder wollen keine Aufmerksamkeit, sie wollen Beziehung.

Von der Milch zur Beikost

Nach monatelangem lustvollem Saugen süßer Milch aus der weichen Brust und dem liebevoll Gehaltenwerden mit Körperkontakt folgt das angeschnallte Sitzen im Hochstuhl, ein harter Löffel, der in den Mund geschoben wird, und Gemüsemus, das sich nicht einfach herunterschlucken lässt. Eine Herausforderung für Eltern und Kind, ein fehlerträchtiges Unterfangen.
Eltern haben spätestens bei der Einführung der Beikost einen zentralen Einfluss auf das Lebensmittelangebot und das Essverhalten des Kindes. Dabei sollten sie aber immer auch die aktive Beteiligung des Kindes an diesem Prozess im Auge behalten. Denn einer bietet an und der andere nimmt an. So haben beide Einfluss auf das Ergebnis. Eltern beeinflussen indirekt ihr Kind über ihre Erwartungshaltung, das Kind reagiert darauf. Die Reaktion des Kindes, beeinflusst das Ergebnis – positiv oder negativ. Dies kann mehrere Male hin- und hergehen, so dass man am Ende nicht mehr weiß, wer mit welchem Verhalten wann angefangen hat, also wie es zu dieser Situation gekommen ist. Aus einem Essensthema wird dann schnell ein Beziehungsthema. Wenn ein Kind das Essen ablehnt, dann möchte es zeigen, dass etwas nicht stimmt. Reagieren die Eltern nur auf das Symptom Nichtessen, intensiviert sich das Symptom und wird zum Problem. Gelingt es den Eltern, das Symp­tom als einen Versuch seitens des Kindes als Marker für „Hier stimmt etwas nicht!“ zu sehen, ermöglicht dies den Eltern einen neuen Blick auf die Situation und das Problem kann verhindert werden. Hierfür brauchen Eltern Vertrauen in sich und in ihr Kind, damit die Sorge um das Kind den Weg nicht versperrt, hinter das Symptom zu schauen.

Von der Beikost an den Familientisch

Viele Eltern neigen dazu, das Problem auf der Lebensmittel­ebene zu lösen. Dann kommt die Möhre weg und die Pastinake hält Einzug. Nimmt das Kind diese auch nicht an, dann ist Ablenkung an der Reihe, zum Beispiel durch Fernseher oder Spielsachen. Darauf folgt Druck und Zwang und wenn die Verzweiflung zu groß wird, bekommt das Kind das Essen im Schlaf angeboten. Hilfreicher wäre es, hier auf die Eltern-Kind-Beziehung zu schauen, die Entwicklung des Kindes mit einzubeziehen, den Kontext zu verändern und die eigene Essbeziehung zu reflektieren.

Abschied von der Flasche

Das Sitzen auf dem Schoß eines Elternteils bietet auch am Familientisch Sicherheit und ermöglicht einen offenen Zugang zu dem neuen Lebensmittelangebot. Das Kind isst jetzt selbstständig mit den Händen, was häufig dazu führt, dass es bei einer Mahlzeit nicht satt wird. Das Hilfsangebot der Eltern, zum Beispiel zwischendurch ein paar Löffel Brei anzubieten, sollte sensibel auf das auf Autonomie ausgerichtete Kind abgestimmt werden. Am ersten Geburtstag wird aus dem Säugling ein Kleinkind, das heißt, der überwiegende Teil der Nahrung und auch Flüssigkeit führt das Kind mit den Händen, der Gabel, dem Löffel und dem Glas selbstständig zum Mund. Der Abschied von der Flasche kann eingeläutet werden. Ein einjähriges Kind ist in der Lage, seine Bedürfnisse, wie Hunger, Durst, Saugen/Kuscheln zu unterscheiden und diese auch gegenüber den Eltern zu signalisieren. Eltern sollten diese Bedürfnisse adäquat beantworten. Die Flasche befriedigt alle drei dieser Bedürfnisse und führt dazu, dass das Kind nicht lernt, seine Bedürfnisse differenziert zu äußern und zu befriedigen.

Der Abschied von der oralen Phase bestärkt das Kind in seiner Ich-Findung. Es macht das Ich stark und ermöglicht das Lernen einer guten Impulskontrolle, die sich positiv auf die Essbeziehung auswirken kann. Galt im ersten Lebensjahr die direkte Bedürfnisbefriedigung in Beziehung auf Hunger und Durst, gilt es jetzt, mit dem Kind den Bedürfnisaufschub zu üben. Es gibt Familienmahlzeiten, auf die ein Kind auch schon einmal warten muss, obwohl es hungrig ist. Der Bedürfnisaufschub gehört zur Basis der Persönlichkeitsentwicklung und macht so aus einem lustgesteuerten Säugling ein starkes Kind und Eltern mit einer gesundheitsförderlichen Essbeziehung.
Essen ist ein zentrales Thema und kann nicht vom restlichen Lebenskontext, von Werten und Haltung, von Beziehungen und Lebensweisen getrennt werden. Der Schlüssel für eine gute Beziehung zum Essen heißt: Zuwendung, Zeit und Zärtlichkeit.

Quelle: Gätjen, E. UGBforum 2/16, S. 62-64

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