RAGE - Das Geheimnis des Alterns

Die Suche nach den Ursachen von Alter und Krankheit beschäftigt Ärzte seit Jahrhunderten. In jüngster Zeit wurde mit RAGE ein Rezeptor entdeckt, der Moleküle erkennt, die bei chronischen Erkrankungen und während des Alterns vermehrt auftreten. Die neue "RAGE-Hypothese" könnte sich als Schlüssel zu diesem Geheimnis erweisen.

Der französische Biochemiker Louis Maillard untersuchte im Jahr 1912, warum sich Milch braun verfärbt, wenn sie beim Kochen anbrennt. Maillard beschrieb daraufhin einen komplexen chemischen Prozess, bei dem Zucker- und Eiweißmoleküle (Proteine) miteinander reagieren. Es entstehen nicht mehr abbaubare langkettige Verbindungen, so genannte Glykierungsendprodukte. Die als "Maillardreaktion" bekannt gewordene chemische Reaktion führte lange ein Schattendasein in der biomedizinischen Forschung und wurde nur in der Lebensmittelchemie beachtet. Auch Maillard selbst hat vor fast 100 Jahren wohl kaum geahnt, dass er einen Vorgang entdeckt hatte, der heute als mögliche Ursache für chronische Erkrankungen betrachtet wird.

Wenn Zucker mit Proteinen reagieren

Glykierungsprodukte sorgen dafür, dass Brot eine braune Kruste, gebratene Hähnchen eine braun-knusprige Haut und Bier seine goldgelbe Farbe erhalten. Erst in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts erkannten Forscher, dass solche Reaktionen auch im menschlichen Körper stattfinden. So bildet beispielsweise der rote Blutfarbstoff Hämoglobin mit Zucker Glykierungsprodukte. Der so genannte HbA1c-Wert - er wird bei Patienten mit Diabetes mellitus als Maß für die Güte der Blutzuckereinstellung gemessen - spiegelt nichts anderes wider als das Ausmaß dieser Glykierung. Je höher der HbA1c-Wert ist, desto mehr Hämoglobin hat mit Zucker reagiert und umso schlechter ist die Blutzuckereinstellung des Patienten. Dem Arzt gibt dieser Wert wichtige Informationen über den Erfolg der Blutzucker senkenden Behandlung. Glykierungsreaktionen können nicht nur Hämoglobin, sondern alle Proteine des Körpers betreffen. Aus "frühen" Glykierungsprodukten entstehen durch weitere Reaktionen "fortgeschrittene" Glykierungsendprodukte. Sie werden in der biochemischen Fachsprache als "Advanced Glycation Endproducts", kurz AGEs, bezeichnet. Ursprünglich nahmen die Wissenschafter an, dass bevorzugt Proteine mit langer Lebensdauer AGEs bilden. Es zeigte sich jedoch, dass die Glykierung auch bei kurzlebigen Proteinen, kleinen Eiweißstücken (Peptiden), Fettbestandteilen und Nukleinsäuren auftreten können.

AGE-Proteine aus der Nahrung

Noch wissen Forscher nicht, welche Bedeutung glykierte Proteine haben, die mit der Nahrung aufgenommen werden. Sie entstehen als Röstprodukte aus Proteinen und Zuckern. Diese so genannten Maillardprodukte kommen beispielsweise in gebratenem Fleisch, Backwaren mit dunkler Kruste oder Pommes frites vor. Als Zusatzstoff stecken sie in Form von Zuckercouleur in vielen verarbeiteten Lebensmitteln wie braunen Soßen, Cola und Malzbier. Ob AGEs aus der Nahrung die Gesundheit beeinträchtigen können, ist noch nicht sicher geklärt. Eine Studie mit Leberkranken liefert jedoch erste Hinweise, dass eine vermehrte Aufnahme von Maillardprodukten bei der Entstehung entzündlicher, chronischer Erkrankungen eine Rolle spielen könnte. Weitere Forschungsarbeiten zum Einfluss von AGE-Proteinen aus der Nahrung laufen derzeit. Unter anderem wird dabei der Einfluss von Nahrungskarenz (Fasten) und verschiedenen Diätformen (Mediterrane Diät, "Western Diet"), ebenso wie die definierte Aufnahme von AGE-freier und AGE-reicher Kost untersucht.


Chemische Uhr des Körpers

Heute werden AGEs auf Grund einer Reihe von Beobachtungen mit zahlreichen natürlichen und krankhaften Vorgängen in Verbindung gebracht. Mediziner haben beispielsweise beobachtet, dass AGEs bei Patienten mit Diabetes mellitus, Arteriosklerose, Morbus Crohn und Colitis sowie Urämie (Harnvergiftung) und Alzheimer Demenz verstärkt auftreten. Während des normalen Alterungsprozesses nimmt die Menge an AGEs im Bindegewebe ebenfalls zu. Bei Untersuchungen verschiedener Säugetierarten stellte sich heraus, dass die Lebensdauer der Tiere mit der Rate der AGE-Bildung abnimmt. Die Forscher wiesen nach, dass eine eingeschränkte Nahrungszufuhr bei Nagern nicht nur die Lebenserwartung erhöhte, sondern auch die Glykoxidationsrate - also die Bildung von AGEs - verminderte. Inwieweit diese Beobachtungen am Tier jedoch auf den Menschen übertragbar sind und welche Konsequenzen dies künftig für die Ernährungsempfehlungen haben wird, kann derzeit noch nicht beurteilt werden.

Besonders eindrucksvoll ist die mit dem Alter verstärkte AGE-Bildung an Lyophylisaten menschlicher Sehnen zu beobachten: Im Kindesalter sind diese weiß, in der ersten Lebenshälfte gelb und im fortgeschrittenen Alter braun - eine Folge der von Maillard beschriebenen Bräunungsreaktion. Die langsam verlaufende AGE-Bildung wird deshalb auch als "chemische Uhr" des Körpers betrachtet.

Ablagerung in den Blutgefäßen

Unverstanden blieb zunächst, ob die Glykierung von Proteinen und anderen Molekülen nur eine Art Markierung für alte, nicht mehr funktionsfähige Zellbestandteile darstellt, die dem Abbau durch Makrophagen (Fresszellen) zugänglich gemacht werden sollen. Unklar war auch, ob glykierte Proteine selbst in der Lage sind, Alterungs- und Krankheitsprozesse zu beeinflussen. Da es außer dem Abbau durch Makrophagen keine körpereigene Möglichkeit gibt, die AGE-Bildung wieder rückgängig zu machen, verändert die Glykierungsreaktion das betroffene Molekül dauerhaft. Einmal glykierte Proteine können ihren normalen Aufgaben im Körper nicht mehr nachgehen, da sie durch die Bräunungsreaktion in ein weitverzweigtes Netz eingebunden werden. Die quervernetzten und sperrigen Proteine lagern sich leicht in Blutgefäßen ab und können so die Bildung großflächiger Ablagerungen (arteriosklerotische Plaques) fördern.

AGEs bewirken Dauerstress für die Zelle

Besonders wichtig für das Verständnis der Wirkweise der AGEs war die Entdeckung des Rezeptors "RAGE" (= Rezeptor für AGE). Er kommt auf nahezu allen Zellen des menschlichen Organismus vor und bindet AGEs. Nach der Bindung löst der Rezeptor im Zellinneren eine Kette von Reaktionen aus und aktiviert unter anderem den so genannten Transkriptionsfaktor NF-kB. Dieser vermittelt die Bildung von Proteinen, die Entzündungsprozesse und Abwehrreaktionen im Körper auslösen. Der Transkriptionsfaktor wird zum Beispiel auch aktiv, wenn die Zelloberfläche beschädigt wird, etwa durch eindringende Bakterien oder Viren. RAGE erkennt nicht nur AGEs, sondern auch andere Substanzen, die bei chronisch entzündlichen und altersbedingten Erkrankungen vermehrt im Körper gebildet werden. Dazu zählt etwa ein als Beta-Amyloid bezeichnetes Peptid. Es findet sich verstärkt im Gehirn von Patienten mit Alzheimer Demenz. Alle von RAGE erkannten Substanzen bewirken eine über Wochen andauernde Aktivierung der Zellen. Entsprechend sind Zellen, die solchen Gefahrstoffen ausgesetzt sind, ununterbrochen in einem unnatürlich stimulierten Zustand, der die Zelle letztlich schädigt. Verschiedene Forschergruppen wollen nun herausfinden, ob dieser per-manente "Notruf" im Inneren der Zelle für die erwähnten Erkrankungen verantwortlich gemacht werden kann und ob eine Unterdrückung dieser Reaktion möglicherweise chronischen und altersbedingten Erkrankungen vorbeugen kann.

Erste Erfolge im Tierversuch

In Tiermodellen versuchten Wissenschaftler ihre Thesen zu bestätigen. Dazu stellten sie ein RAGE-Molekül her, das zwar AGE-Proteine bindet, aber nicht auf der Zell-oberfläche verankert ist. Dieses "lösliche RAGE" fängt AGEs ab, bevor sie an die Rezeptoren auf der Zelle binden können. So besserte sich der Gesundheitszustand von Mäusen deutlich, die an Diabetes mellitus, Arteriosklerose, Alzheimer Demenz, Morbus Crohn und anderen chronisch-entzündlichen Krankheiten litten, wenn ihnen lösliches RAGE verabreicht wurde.

Um diese Zusammenhänge eindeutiger klären zu können, züchtete unsere Arbeitsgruppe um Prof. Peter P. Nawroth zusammen mit Wissenschaftlern des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) so genannte RAGE-Knock-out-Mäuse. Diesen Mäusen fehlt die Erbinformation, die für den Bau von RAGE-Molekülen erforderlich ist. RAGE-Knock-out-Mäuse erkranken zwar an Diabetes, scheinen aber vor Spätfolgen wie Nerven- und Nierenschäden besser geschützt zu sein. AGEs und andere Verbindungen, die an den RAGE-Rezeptor binden, bewirken zudem nur im Darm von Mäusen, die über RAGE verfügen - nicht aber in RAGE-Knock-out-Mäusen -, eine Entzündungsreaktion. Schließlich gibt es erste Hinweise darauf, dass Mäuse, denen RAGE fehlt, im Alter schlanker bleiben und auch älter werden als Mäuse, die RAGE besitzen. Neue Untersuchungen zeigen zudem einen Einfluss von RAGE auf Abwehrreaktionen des Immunsystems. So überleben Mäuse, denen der Rezeptor fehlt, eine Blutvergiftung (Sepsis) deutlich häufiger als Mäuse mit RAGE. Diese Experimente belegen erstmals, dass RAGE tatsächlich eine zentrale Rolle bei verschiedenen Erkrankungen spielt.

Medikamente gegen das Altern

Noch ist die genaue Funktion von RAGE im gesunden wie im kranken Organismus nicht bekannt. Eines Tages wird es aber vielleicht möglich werden, Medikamente zu entwickeln, die bei Patienten mit chronisch-entzündlichen und alters bedingten Krankheiten eine von RAGE abhängige Nachrichtenübermittlung teilweise oder sogar vollständig ausschalten können. Bisher ist nachgewiesen, dass in Blutzellen von Patienten mit Diabetes mellitus und im Darm von Patienten mit entzündlichen Darmerkrankungen der über RAGE aktivierte Transkriptionsfaktor NF-kB vermehrt und dauerhaft aktiv ist. Bisher ist noch kein Patient beschrieben worden, dem RAGE vollständig fehlt. Andererseits sind in den letzten Jahren aber einige Patienten identifiziert worden, deren Erbinformation so verändert ist, dass die Bindung von RAGE-Liganden an ihren Rezeptor verstärkt ist. Eine erste klinische Studie weist nach, dass Patienten, die diese spezielle Genveränderung aufweisen, häufiger an rheumatoider Arthritis erkranken. Die Ergebnisse unterstützen die Hypothese einer zentralen Rolle von RAGE bei der Entstehung chronischer Erkrankungen. Sie machen aber zugleich deutlich, dass es noch ein langer Weg sein wird, die im Tiermodell gewonnenen Erkenntnisse in die Klinik zu übertragen.

Lebensstil beeinflusst Entzündungsreaktionen

Verschiedene Versuchsreihen dokumentieren, dass es möglich ist, eine durch AGEs ausgelöste überschießende NF-kB-Aktivierung in Zellen mit Medikamenten zu kontrollieren. Überraschenderweise zeigten weitere Studien, dass nicht nur Arzneimittel, sondern auch durch Akupunktur erzeugte Entspannung, Wohlbefinden und Zufriedenheit oder ein Glas Rotwein den Stress für die Zelle vermindern. Vermehrter psychischer Stress hingegen und eine ungesunde Lebensweise erhöhen die NF-kB-Aktivität. So konnten neuere Untersuchungen unserer Arbeitsgruppe am Universitätsklinikum in Heidelberg eindrucksvoll nachweisen, dass bereits kurzfristiger psychischer Stress ausreichend ist, zelluläre Signalkaskaden auszulösen, die letztlich die Aktivierung von NF-kB und nachfolgend eine Entzündungsantwort der Zelle zur Folge haben. Psychischer Stress könnte daher besonders bei Patienten mit chronischen Erkrankungen wie Diabetes mellitus ein bislang unterschätzter Risikofaktor sein. In den nächsten Jahren wird unsere Arbeitsgruppe daher in einer prospektiven Studie untersuchen, ob es möglich ist, die NF-kB-Aktivierung durch eine psychotherapeutische Betreuung zu mindern und dadurch diabetische Spätkomplikationen bei Patienten mit Typ-2-Diabetes zu reduzieren.

Viele Studien laufen derzeit noch

Die besondere Bedeutung solcher Studien wird auch dadurch deutlich, dass neue Untersuchungen einen möglichen Zusammenhang zwischen RAGE-vermittelter Zellaktivierung und verminderter Insulinempfindlichkeit von Typ-2-Diabetikern nahe legen. Die von RAGE übermittelten Signale erreichen nicht immer nur den eigentlichen Empfänger NF-kB. Sie schränken möglicherweise auch die Funktion der Insulinrezeptoren auf den Zellen ein, die den Auftrag zur Zuckeraufnahme und -verwertung in das Zellinnere schicken. Als Folge reagieren die Zellen nicht auf Insulin und der über die Nahrung aufgenommene Zucker wird nicht verarbeitet, obwohl Insulin vorhanden ist. Dieser Zustand wird als "Insulinresistenz" bezeichnet. Einzelne Gewebe können im Falle einer Insulinresistenz ein Notfallprogramm veranlassen und Zucker auch ohne Insulin umsetzen. Wie die meisten Notfallprogramme der Zelle geht jedoch auch diese Maßnahme mit der Freisetzung von Sauerstoffradikalen einher, die ihrerseits den Transkriptionsfaktor NF-kB aktivieren und zusätzlich die AGE-Bildung verstärken. Eine Minderung der durch Stress ausgelösten NF-kB-Aktivierung bei Diabetikern könnte daher auch eine verminderte Aktivierung der AGE-RAGE-NF-kB-Achse bewirken.

Forschung setzt nicht nur auf Medikamente

Ziel unserer Arbeit ist nicht nur, RAGE besser zu verstehen, um Medikamente zu entwickeln, mit denen chronisch-entzündliche und altersbedingte Erkrankungen behandelt werden können. Es gilt auch zu untersuchen, wie veränderte Lebensgewohnheiten genutzt werden können, um die krankheitsrelevante Aktivierung der RAGE-Reaktionskette zu vermeiden.

Quelle: Bierhaus, A. UGB-Forum 6/04, S. 296-299