Achtsam essen

Die Philosophie des achtsamen Essens plädiert für eine Ernährung ohne Plan mit Bauchgefühl und Herz. Das bedeutet, raus aus einer kopfgesteuerten Ernährung hin zum Essen mit Körper, Herz und Verstand.

Achtsam essen

Jede Woche erreichen uns neue Ernährungsempfehlungen für mehr Gesundheit, weniger Übergewicht oder um Krebs vorzubeugen. Das Wissen um eine gesunde Ernährung steigt durch die Forschungen der Ernährungswissenschaft, Medizin und Biochemie ständig an. Eigentlich, so könnten wir schlussfolgern, müssten die ernährungsbedingten Gesundheitsprobleme wie Diabetes oder Adipositas bei so viel Wissen abnehmen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Nicht nur körperlich ist die Situation für viele unbefriedigend. Die meisten, das heißt 85 Prozent der Menschen, sind unzufrieden mit ihren Ernährungsgewohnheiten. Wir sind verwirrt und unsicher, was wir überhaupt essen sollen. Die Suche nach der richtigen Ernährung ist zumeist rational und verkopft, das Vertrauen auf das eigene Körpergefühl scheint dabei immer mehr verloren zu gehen.

Wie wollen wir essen

Sind nun drei Mahlzeiten am Tag besser als fünf? Abends Kohlenhydrate oder besser nicht? Was ist die richtige Ernährung für mich? Und wie soll ich das jemals in meinem Alltag umsetzen? So viel Zeit habe ich doch gar nicht. Das sind einige typische Fragen und Bedenken rund ums Essen. Überprüfen wir unsere Vorstellungen von gesunder Ernährung – welche Bilder haben wir? Viel Salat, Gemüse, Vollkornprodukte, Kalorienzählen und vielleicht kommen auch die Vorstellungen von Verzichten oder Müssen vor. Wir teilen Lebensmittel schnell in gut oder schlecht ein und vergessen oder ignorieren die Bedürfnisse des Körpers und unser Bauchgefühl.

Dadurch entstehen Spannungen, die sich zum Beispiel in Heißhungerattacken ausdrücken. Der Appetit auf eine Portion Pommes wird unterdrückt: "Pommes sind schlecht – viel zu fettig", sagt der Kopf. Stattdessen nehmen wir den Salat: "Salat ist gut und gesund". Doch der Appetit auf etwas Salziges und Fettiges ist immer noch da – und so plündern wir dann später doch noch die ganze Tüte Chips.

Mal ganz ehrlich: Wollen wir ein Leben lang Kalorien, Nährwerte und Punkte zählen oder uns von jeder neuen Diät verrückt machen lassen? Nein, ich glaube die Mehrheit möchte dies nicht. Sprechen wir nicht mehr über Ernährung. Sprechen wir über Essen, das, was wir täglich tun. Und sprechen wir über einen Ansatz über den Tellerrand hinaus, der eine Lösung für mehr Zufriedenheit, Genuss und eine neue Qualität des Essens und des Lebens darstellt: achtsam essen.

Das Thema Achtsamkeit ist nicht neu. Es entstammt ursprünglich dem Buddhismus und wird seit 2500 Jahren praktiziert. Jon Kabat-Zinn aus den USA, ursprünglich ein Molekularbiologe, entwickelte ein auf Achtsamkeit basiertes Stressmanagement-Programm. Die Mindfulness-Based-Stress-Reduction, kurz MBSR, findet auch in Deutschland immer mehr Resonanz. Kabat-Zinn definiert Achtsamkeit wie folgt: "Achtsamkeit bedeutet aufmerksam zu sein: bewusst, im gegenwärtigen Augenblick und ohne zu urteilen … Achtsamkeit ist die Kunst, bewusst zu leben. .. Achtsamkeit bedeutet, den Autopiloten im Alltag auszuschalten."

Die Kunst, bewusst zu leben

Achtsames Essen ist demnach eine spezielle Art der Aufmerksamkeit und des bewussten Essens. Es hat weder etwas mit Kalorienzählen noch mit Kontrolle des Essens zu tun. Vielmehr geht es darum, sich selbst beim Essen zu beobachten, wahrzunehmen, ohne zu urteilen. Zum Beispiel mit folgenden Fragestellungen:

  • Wann esse ich?
  • Warum esse ich?
  • Was tut mir gut beim Essen, was nährt mich?
  • Wie und wo merke ich Hunger?
  • Wie sieht mein Essen aus, welche Konsistenz hat es, wie schmeckt es wirklich?
  • Wie und wo merke ich, dass ich satt bin?
  • Welche Gedanken und Emotionen verbinde ich mit dem Essen?
  • Wo bin ich mit meinen Gedanken und Gefühlen, wenn ich esse?
Achtsames Essen ist demnach keine neue Diät. Es geht beim achtsamen Essen nicht um die Ausgrenzung bestimmter Lebensmittel. Denn Lebensmittel sind erst einmal nur Lebensmittel. Wir machen sie erst durch unsere Bewertung gut oder schlecht. Vielmehr geht es um das WIE des Essens. Dadurch können wir die Prinzipien des achtsamen Essens immer anwenden, egal was und wo wir essen.

Auf Körpersignale vertrauen

Achtsames Essen lenkt unsere Aufmerksamkeit wieder zurück zu uns, weg von der Ratgeberliteratur, Medien, Lebensmittelempfehlungen und Kalorientabellen. Achtsames Essen möchte uns unterstützen, wieder auf unsere Körpersignale zu vertrauen und das natürliche Gefühl für Hunger und Sättigung zurückzuerlangen. Denn selbst wenn wir zu viel von den gesündesten Lebensmitteln und Mahlzeiten zu uns nehmen, ist das nicht gut für uns.

So können wir nach und nach zum eigenen Experten für unsere Ernährung werden. Und wir lernen immer mehr, für uns selbst Verantwortung zu übernehmen und uns selbst zu vertrauen. Denn Vertrauen – das ist es wohl, an was es uns derzeit mangelt, so sagt der Soziologe Gunther Hirschfelder, spezialisiert auf die Themen Esskultur und Soziologie des Essens: "Wir haben eine Vertrauenskrise! Wir vertrauen uns selbst nicht mehr und delegieren beim Essen die Verantwortung," ... in die Werbung, in die Wissenschaft, in die Experten, anstatt unserem Bauchgefühl und unserem Geschmack zu vertrauen.

Zeit zum Genießen

Fangen wir mit kleinen Schritten an, Vertrauen zu unserem Körper mit Hilfe der Achtsamkeit aufzubauen. Dafür brauchen wir Neugierde und Offenheit für die Erfahrungen. Einige Beispiele:

Wir alle haben Lieblingsgerichte – ob selbst gekocht oder beim Italiener. Wir freuen uns auf die Mahlzeit, sie steht vor uns auf dem Teller, herrlich! Doch eh wir uns versehen, ist der Teller leer und eine halbe Stunde später merken wir, dass wir zu viel gegessen haben. Achtsam essen lehrt uns, inne zu halten und jedes Mal neu an unser Lieblingsgericht heranzugehen: Wie sieht es heute aus? Wie riecht es? Wie schmeckt es heute ganz genau? Wie esse ich? Genieße ich wirklich jeden Bissen, lasse ich mir Zeit oder habe ich den Autopiloten-Modus an? Esse ich schnell und schiebe den nächsten Happen schon in den Mund, obwohl ich kaum geschluckt habe? Wann höre ich auf? Was passiert, wenn ich aufhöre, obwohl ich noch nicht pappsatt bin? Schalten Sie bei Lieblingsgerichten einen Gang hinunter und lassen Sie sich Zeit.

Fernsehabend mit Freunden. Gummibärchen und Chips liegen bereit. Wie gewohnt greifen wir zu den Chips, köstlich salzig, knusprig, fettig! Doch halt. Wir lassen einen Chip einmal länger im Mund. Wie schmeckt er wirklich? Vielleicht feurig, aufregend oder eher zu fettig, alt und ranzig? Wie genau ist die Konsistenz im Mund? Was passiert, wenn die Chips auf einmal gar nicht mehr gut schmecken? Machen Sie nach zwei Händen Chips den Autopiloten aus. Was passiert?

Kantine –Mittagspause mit Kollegen. Aus Gruppengefühl gehen wir zusammen essen, obwohl das Essen nicht sonderlich schmeckt. Beim Anblick der Auswahl nehmen wir das kleinste Übel: ein paar Spätzle mit etwas Gemüse. Schon beim Essen merken wir, dass das Essen uns weder von den Nährwerten satt noch emotional zufriedener macht. Wir essen nur so viel, dass wir nicht mehr hungrig sind.

Wenn die Augen größer sind als der Magen

Diese Beispiele verdeutlichen, dass es beim Essen um mehr als Nährstoffaufnahme und satt werden geht. Das Sattwerden funktioniert auf verschiedenen Ebenen, so wie wir unterschiedliche Hungerarten kennen. Denn warum sonst essen wir weiter, wenn der Magen schon weh tut, weil er voll ist? Wir kennen dieses Verhalten von der Redensart: "Da waren die Augen größer als der Magen". Oder wir essen nach einem stressigen Tag, um uns zu belohnen und nicht, weil wir hungrig sind. Dieses Verhalten wurde erst kürzlich in einer klein angelegten Pilotstudie aus Italien bestätigt. Wenn wir essen, weil wir hungrig sind, hat dies keinen Effekt auf unser inneres Belohnungssystem – sprich wir werden nicht glücklicher. Unser Belohnungszentrum wird jedoch stark aktiviert, wenn wir hedonistisch essen, das heißt, wenn wir rein aus Freude und mit Genuss essen.

Achtsam Essen Tabelle

Aus der Sicht des achtsamen Essens sehen wir hier zwei unterschiedliche Hungerarten, die Jan Chozen Bays sehr gut beschrieben hat. Denn neben dem Magenhunger gibt es zum Beispiel noch den Augenhunger, Mundhunger oder auch den Herzhunger (siehe Abb. 1). Diesen können wir mit dem Belohnungszentrum in Verbindung bringen: Wir sehnen uns nach guten Gefühlen, Nähe, Anerkennung, Wertschätzung, Entspannung, Freude, Liebe – das ist kein körperlicher, sondern ein emotionaler Hunger. Bleibt die Frage, wann wir dann satt sind, wann es für uns genug ist, wenn wir versuchen, mit Essen unsere Emotionen zu sättigen. Im Alltag können wir beim nächsten hedonistischen Essen einmal in uns hineinhören, auf was wir wirklich gerade Hunger haben. Und dann schauen, was passiert, wenn wir unsere Lieblingsspeise essen oder zum Beispiel einen guten Freund anrufen.

Achtsamkeit gut fürs Stressmanagement

Im Alltag können wir Achtsamkeit bei den Mahlzeiten mit kleinsten Schritten umsetzen. Wir müssen nicht jede Mahlzeit schweigend und sehr langsam einnehmen. Nein, es darf einfach sein – was nicht bedeutet, dass es leicht ist:
  • Eine Mahlzeit mit einem achtsamen Bissen anfangen.
  • Beim Essen einen Gang herunter schalten, mehrmals kauen, das Essen gut einspeicheln.
  • Nach ein paar Bissen das Besteck ablegen.
  • Nach der Hälfte der Mahlzeit in sich hineinhören: Bin ich noch hungrig?
  • Bewusst einmal nicht aufessen.
  • In der Kantinenrunde der Langsamste beim Essen sein.
  • Sich das Essen bewusst anschauen: Welche Farben nehme ich wahr? Wie riecht es?

Achtsames Essen ist eine einfache Möglichkeit, im hektischen Alltag zu stoppen, langsamer zu werden, auf uns und in uns hineinzuhorchen. So sind wir ganz in der Gegenwart und werden uns bewusst, was wir tun. So kommen wir für einen Moment aus dem Hamsterrad hinaus, der Kopf wird klarer, die Nerven können sich beruhigen. Dadurch entspannt sich das gesamte Verdauungssystem, welches im Stress angespannt und verkrampft ist. Auch durch das bessere Einspeicheln der Nahrung können wir die Mahlzeiten besser verdauen.

Ein weiterer Effekt von mehr Achtsamkeit beim Essen ist die Erhöhung der Selbstwahrnehmung, der Wertschätzung des Essens sowie der Selbstwertschätzung allgemein. Wir erlauben uns, zumindest für ein paar Momente, beim Essen zur Ruhe zu kommen und aus dem Hamsterrad auszusteigen. Ein guter Anfang für mehr Ruhe insgesamt.

Literatur
Albers S. Essen, trinken, achtsam genießen. Arbor, Freiburg 2010
Albers S. Ein Leben im Gleichgewicht – Buddhas Weg achtsamen Genießens. Arbor, Freiamt 2009
Bays JC. Achtsam essen. Vergiss alle Diäten und entdecke die Weisheit deines Körpers. Arbor, Freiamt 2009
Hanh TN, Cheung L. Achtsam essen – achtsam leben. Droemer Knaur, München 2012
Kabat-Zinn J. Gesund durch Meditation. Droemer Knaur, München 2011
Lehrhaupt L, Meibert P. Stress bewältigen mit Achtsamkeit: Zu innerer Ruhe kommen durch MBSR. Kösel, München 2010
Monteleone P et al. Hedonic eating is associated with increased peripheral levels of ghrelin and the endocannabinoid 2-arachidonoyl-glycerol in healthy humans: a pilot study. J Clin Endocrinol Metab. 97 (6), E917-E924, 2012
Stahl B, Goldstein E. Stressbewältigung durch Achtsamkeit: Das MBSR-Praxisbuch. Arbor, Freiburg 2010

Quelle: Platen, vA: UGB-Forum 6/12, S. 269-272
Foto: S. Anna/Fotolia.com