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Ackern & Rackern: Die Zeit in der Landwirtschaft

Dank der beschleunigten landwirtschaftlichen Produktion sind Lebensmittel heute an jedem Ort zu jeder Zeit verfügbar. Doch dieser vermeintliche Erfolg ist teuer erkauft. Pflanzen und Tieren bleibt immer weniger Zeit zum Wachsen; Bäuerinnen und Bauern werden zu gehetzten Zeitsparern.

Beschleunigte landwirtschaftliche Produktion

Das Leben und Wirtschaften auf dem Land ist einer der wenigen Bereiche innerhalb unserer Gesellschaft, in dem das Eingebundensein des Menschen in die Zeiten und Rhythmen der Natur (noch) offenkundig ist. Denken wir an das Wachstum und die Reifungsprozesse der Pflanzen und Tiere, den Wechsel der Jahreszeiten und die notwendige Orientierung vieler landwirtschaftlicher Arbeiten am Jahreslauf; denken wir an den fruchtbaren Kreislauf des Werdens und Vergehens, von Aussaat und Ernte auf dem Feld, von Geburt und Tod im Stall.

Zeit ist Geld – auch in der Landwirtschaft

Die Landwirtschaft muss beim Umgang mit dem Boden, den Pflanzen und den Tieren die vielfältigen Zeitansprüche der Menschen mit den nicht minder vielfältigen Ansprüchen der Natur in einen möglichst fruchtbaren Zusammenhang bringen. Landwirtschaftliche Produkte sind wie kaum eine andere Warengruppe in unserer Wirtschaft Früchte der Zeit. Trotz dieser Einbindung in die vielfältigen Zeiten und Rhythmen der Natur konnte sich die Landwirtschaft dem allgemeinen Beschleunigungssog der modernen Gesellschaft nicht entziehen. Die allumfassende Ökonomisierung von Zeit – bekannt unter dem Motto „Zeit ist Geld“ – machte auch vor der Landwirtschaft nicht halt. Der viel beschriebene Strukturwandel auf dem Land, das Wachsen oder Weichen, hängt nicht nur von der Größe der Betriebe ab, sondern zunehmend auch von der Geschwindigkeit und Zeiteffizienz der Betriebsabläufe. Wie auch sonst in der Wirtschaft gilt in der Landwirtschaft verstärkt der turbokapitalistische Grundsatz: „Nicht die Großen werden die Kleinen fressen, sondern die Schnellen die Langsamen“.

Alles zu jeder Zeit an jedem Ort

Die Angst vor dem Hunger ist einem unvorstellbaren Überfluss an Nahrung gewichen. Wir brauchen keine Lebensmittel mehr selber zu konservieren – geschweige denn herzustellen –, wir brauchen keine Vorräte anzuhäufen, wir müssen uns vor allem nicht begnügen mit dem, was die Jahreszeit oder die Region zu bieten haben. Wir alle kennen die subventionierten Transportrituale innerhalb und außerhalb der EU, die zahllosen Umwege, die sich offenbar lohnen, um aus einem Schwein eine Wurst und aus der Milch einen Käse zu machen.
Und da irgendwo auf diesem Globus immer gerade Saison ist, haben wir Verbraucher den Sinn für jahreszeitliche Produkte weitgehend verloren: Alles ist jederzeit verfügbar. Um diesen saisonbereinigten Lebensstil aufrechtzuerhalten, beziehen wir Deutsche derzeit mehr Gemüse und ein Vielfaches an Obst aus Übersee als aus Europa. Gleichzeitig haben die Lebensmitteltransporte in den letzten Jahren unverhältnismäßig zugenommen: Obwohl der Lebensmittelkonsum in den letzten 30 Jahren nur leicht angestiegen ist, hat sich der Transportaufwand etwa innerhalb einer Generation nahezu verdoppelt. Die großen Entfernungen, die unsere Lebensmittel in der Regel zurücklegen, machen zwangsweise die Zeit zum Problem. Nahrung muss technisch durch Einfrieren, Erhitzen oder geeignete Verpackung so zugerichtet werden, dass sie über längere Zeit ihren Zustand nicht verändert, sich gleichsam „tot stellt“.

Produktion und Verarbeitung am selben Ort

Die Land- und Lebensmittelwirtschaft könnte sich dem energie- und ressourcenaufwändigen Kampf gegen die Zeit weitgehend entziehen. Dazu müsste sie sich weniger an globalen, als vielmehr an regionalen Märkten orientieren. Ein weitgehend ungenutztes Potenzial: Für Deutschland hat die Klima-Enquete des Bundestages ausgerechnet, dass rund zwei Drittel der Lebensmittel in der Region selbst produziert werden könnten, wenn geeignete Rahmenbedingungen für den Absatz geschaffen würden. Statt dessen werden in einigen Gebieten bei uns nur noch ganze fünf Prozent der heimischen Produkte in der Region verkauft.
Mittlerweile gibt es bundesweit eine Vielzahl von Projekten zur Re-Regionalisierung. Die Herrmannsdorfer Landwerkstätten beispielsweise haben in Glonn in der Nähe von München die verschiedenen Arbeitsabläufe von Produktion, Verarbeitung und Distribution zusammengeführt. Auf den ökologisch wirtschaftenden Betrieben sind die Schlachträume keine hundert Meter vom Stall entfernt; die Tiere werden ohne vorhergehenden Transport und von ihnen vertrauten Menschen weitgehend stressfrei geschlachtet und noch schlachtwarm verarbeitet. Diese räumliche Nähe von landwirtschaftlicher Produktion und Verarbeitung bedeutet zugleich eine enorme Beschleunigung der Abläufe (z. B. durch Umgehung der Kühlkette) – eine Beschleunigung, die sich jedoch in diesem Fall positiv auf die Qualität der Produkte auswirkt. Wenn schlachtwarm verarbeitet wird, werden beispielsweise aufwändige und qualitätsmindernde Konservierungstechniken unnötig.

Keine Zeit zum Wachsen

Der Blick in einen modernen Stall zeigt, dass dank fortschrittlicher Zucht- und Fütterungsverfahren die Leistung der Tiere pro Zeiteinheit enorm gestiegen ist: mehr Milch, mehr Eier, mehr Fleisch und das in immer kürzerer Zeit. Ein Beispiel hierfür ist die Beschleunigung der Mastdauer von Schweinen in den letzten hundert Jahren: Elf Monate lang musste ein Schwein am Anfang des 20. Jahrhunderts gemästet werden, um seine hundert Kilogramm auf die Schlachtwaage zu bringen; 1950 waren es dann nur noch sechs bis sieben Monate und heute reichen bereits weniger als fünf Monate. Innerhalb von 100 Jahren hat sich die Mastdauer bei gleichem Mastendgewicht also mehr als halbiert. Diese enorme Beschleunigung hat verschiedene Ursachen. Die Zuchttiere werden einseitig nach Leistungskriterien wie Muskelwachstum oder Milchmenge selektiert; ihre Nachkommen dämmern dann mit wenig Bewegung (sprich: Kalorienverbrauch) als möglichst effiziente Futterverwertungsmaschinen dem Tag X entgegen, den der Computer für ihren Tod errechnet hat. Neben der Zucht und Haltung ist es jedoch vor allem die intensive Fütterung mit Kraftfutter, die den gewünschten Mengeneffekt bringt.

Beschleunigung macht Tiere krank

Während sich eine industrielle Produktion vergleichsweise problemlos beschleunigen lässt, gibt es bei den Tieren offenbar biologische Grenzen des Wachstums und seiner Beschleunigung. Denn was zum Beispiel in der Schweinemast von dem Leistungs- und Zeitgewinn übrig bleibt, sind oftmals krankheitsanfällige und gestresste Tiere: verbraucht und schlachtreif, noch bevor der Organismus ausgereift ist und die Tiere das Erwachsenenalter erreicht haben. Erst nach drei bis vier Jahren wäre das Skelett eines Hausschweins voll entwickelt, geschlachtet wird das Tier jedoch in der Regel nach einem halben Jahr. Obwohl es noch Milchzähne hat, trägt es bereits mit hundert Kilogramm Mastendgewicht den Körper eines erwachsenen Tieres. Von 1960 bis Mitte der neunziger Jahre konnte die Milchleistung bundesdeutscher Kühe zwar um 30 Prozent gesteigert werden. Dem stehen jedoch eine Zunahme der Eutererkrankungen um rund 600 Prozent und eine Steigerung der Erkrankungen von Klauen und Gliedmaßen um über 300 Prozent gegenüber. Die immer schnelleren Leistungszunahmen stehen nachweislich in direktem Zusammenhang mit einem starken Rückgang der Lebenszeit landwirtschaftlich genutzter Tiere.

Der gehetzte Zeitsparer: der Bauer

Kehren wir noch einmal dorthin zurück, wo all die Lebensmittel letztlich herkommen: auf den Acker. Um einen Hektar Getreide zu mähen und zu dreschen, benötigte ein Bauer vor hundert Jahren rund 300 Stunden. Dank technischer Aufrüstung seines Betriebes schafft er das heute in einer Stunde. Was die Qualität der Arbeit angeht, scheint das Ergebnis eher ernüchternd. Gewiss, durch die technische und chemische Aufrüstung der Betriebe ist der Anteil schwerer körperlicher Arbeit gesunken. Nach Meinung der Betroffenen haben aber die verschiedenen Zeiteinspareffekte eher zu einer Verdichtung von Zeit und damit zu mehr Hektik in den Betrieben geführt. Die Menschen auf dem Bauernhof ähneln immer mehr denen in den Städten: Sie wirken wie gehetzte Zeitsparer, ständig auf der Suche nach der gewonnenen Zeit. Was ursprünglich ein Reiz gerade des landwirtschaftlichen Berufes war, nämlich die Vielseitigkeit und Ganzheitlichkeit des Tuns, wird zunehmend zu einer Belastung.

Beschleunigung hat ihre Grenzen erreicht

Die Tatsache, dass sich die meisten Zeiteingriffe und so genannten Zeitgewinne im Umgang mit der Natur bei näherer Betrachtung als trügerisch erweisen, ist Grund genug für einen verhaltenen Optimismus. Insbesondere die Tierhaltung und Tierzucht ist ein eindrückliches Beispiel dafür, dass man in der Landwirtschaft beschleunigungsbedingt an Grenzen des Sinnvollen gestoßen ist beziehungsweise sie bereits überschritten hat – und zwar Grenzen auch des ökonomisch Sinnvollen. Die Schere zwischen Leistungssteigerung und Gesundheit der Tiere geht immer weiter auseinander – eine Entwicklung, die sich über kurz oder lang ökonomisch selbst ad absurdum führen wird. Grund für einen verhaltenen Optimismus ist auch das durch diverse Lebensmittelskandale, Schweine­pest und BSE aufgeschreckte Verbraucherbewusstsein. Es wird dazu beitragen, dass ein artgemäßer Umgang mit landwirtschaftlich genutzten Tieren in Zukunft an Bedeutung gewinnen wird. Ein solcher Umgang darf sich jedoch nicht nur – wie bisher – um ein größeres Raumangebot für die Tiere kümmern, sondern muss sich gleichermaßen an den vielfältigen Eigenzeiten und Rhythmen der Tiere orientieren und insgesamt auf eine längere Nutzungsdauer abzielen.

Bekömmliches Zeitmaß für Mensch und Tier

Traditionelle Öko-Bauern, die ihren Betrieb nach dem Prinzip der Kreislaufwirtschaft führen, bemühen sich um einen möglichst schonenden Umgang mit den natürlichen Ressourcen. Auf Dauer ist es allerdings nicht glaubwürdig, wenn sie bei dieser nachhaltigen Wirtschaftsweise zugleich Raubbau an der wichtigsten aller nicht-erneuerbaren Ressourcen treiben: ihrer eigenen Lebenszeit. In diesem Sinne sollte eine bäuerliche, ökologische Agrar-Kultur das beinhalten, was man eine öko-soziale Zeitkultur nennen könnte. Eine Zeit-Kultur, die sich auf die Suche nach den rechten, für Mensch und Natur bekömmlichen Zeitmaßen macht.