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Eiweiß unter Verdacht

In den Industrienationen wird nicht nur zu viel Fett, sondern auch zu viel Protein gegessen. Obwohl es Hinweise dafür gibt, dass eine proteinreiche Ernährung die Gesundheit schädigt, sind die Auswirkungen bislang kaum erforscht.

Durchschnittlich wird in Westeuropa und den USA mit der Nahrung das 1,5- bis 2fache der empfohlenen Menge an Protein aufgenommen. Davon stammen etwa zwei Drittel aus tierischen Lebensmitteln. Nach Einschätzung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) gibt es bis heute keinen experimentellen Nachweis dafür, dass eine proteinreiche Ernährung schädlich ist. Das liegt aber vor allem daran, dass der Einfluss einer hohen Proteinzufuhr auf den Menschen bislang nur in kurzfristig angelegten Studien untersucht wurde. Über die Folgen lang andauernder proteinreicher Ernährung existieren leider keine entsprechenden Untersuchungen. Beobachtungen an größeren Bevölkerungsgruppen liefern allerdings Hinweise dafür, dass eine proteinreiche Ernährung zum Entstehen chronischer Erkrankungen beiträgt. Deshalb empfiehlt die "International Dietary Energy Consultative Group" seit 1999 einen oberen Grenzwert für die Proteinzufuhr von zwei Gramm pro Kilogramm Körpergewicht und Tag. Das bedeutet, eine 70 Kilogramm schwere Person sollte täglich nicht mehr als 140 Gramm Protein essen. Auch die Deutsche Gesellschaft für Ernährung hat sich dieser Auffassung angeschlossen.

Gibt es Eiweißspeicherkrankheiten?

Nach dem von Prof. Lothar Wendt (1907-1989) erstmals 1949 veröffentlichten Konzept der "Eiweißspeicherkrankheiten" wird bei überkalorischer Ernährung überschüssiges tierisches Eiweiß im Körper gespeichert. Dies führt nach Meinung des Frankfurter Internisten auf Dauer zu diversen Krankheiten wie Herzinfarkt, Atherosklerose, Schlaganfall, Bluthochdruck, Rheuma, Angina pectoris, Arthrose, Typ-2-Diabetes, Nierenentzündung und Autoimmunkrankheiten. Eiweiß wird laut Wendt vor allem in der Basalmembran der feinen Blutgefäße (Kapillaren) und dem Bindegewebe (Grundsubstanz) gespeichert. Bei andauernder Proteinüberversorgung komme es infolge von Eiweißabscheidungen zur Verdickung der Basalmembran. Diese stellt als Bestandteil der Kapillarwand eine zentrale Schnittstelle zwischen Blutbahn und Geweberaum dar. Die Verdickung der zu etwa 90 Prozent aus Protein bestehenden Basalmembran vermindert laut Wendt die Durchlässigkeit der Kapillarwand. Dies führe zu den oben genannten Erkrankungen, die er mit dem Sammelbegriff "Hypoporopathien" bezeichnet. Bei Diabetikern ist die Verdickung der Basalmembran eindeutig nachgewiesen, wobei die Ursache dafür noch unbekannt ist.
Der Hämatokritwert (das Volumen der Zellbestandteile im Blut) sei ein Indikator für das Vorliegen einer solchen krankhaften Proteinspeicherung. Einen Wert unter 40 Volumenprozent hält Wendt für unbedenklich. Die Schäden der Eiweißüberernährung können seiner Ansicht nach durch eine eiweißarme Diät, Fasten oder mithilfe von Aderlässen rückgängig gemacht werden.

In der geltenden Lehre der Ernährungswissenschaft und Medizin wird der Standpunkt vertreten, dass es im menschlichen Organismus keine Eiweißspeicher und somit auch keine Eiweißspeicherkrankheiten gibt. Dieses Dogma hat sich in den 50er- und 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts in der Wissenschaft etabliert und wird bis heute aufrecht erhalten. Beachtenswert sind in diesem Zusammenhang die Ergebnisse einiger sorgfältig durchgeführter Studien. So wurde bei proteinreicher Diät mehrfach eine positive Stickstoffbilanz beobachtet. Das heißt, der Körper hat mehr Stickstoff in Form von Protein aufgenommen, als er wieder abgegeben hat. Das widerspricht dem allgemein vertretenen Standpunkt, dass Protein bzw. Stickstoff nicht im Körper gespeichert werden kann. Bemerkenswert ist, dass bis heute in der Literatur keine sachlich begründete, haltbare Kritik an Wendts Konzept zu finden ist.

Wendts Theorie macht Therapieerfolge plausibel

Die vielfach dokumentierten Heilerfolge mit Fasten- und Rohkosttherapie bei verschiedenen Erkrankungen erhalten durch die Hypothese der Eiweißspeicherkrankheiten eine sehr plausible Begründung. Die jahrzehntelangen praktischen Erfahrungen vieler Ärzte mit Fasten- und Rohkostkuren bestärken Wendts Theorie. Nach den heutigen Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens fehlt der Beweis für die Richtigkeit des Konzepts der Eiweißspeicherkrankheiten. Um diesen zu erbringen, wäre eine kontrollierte klinische Langzeitstudie notwendig. Dabei müsste die Dicke und Durchlässigkeit der Basalmembran von Personen mit Symptomen der krankhaften Eiweißspeicherung vor und nach einer eiweißarmen Diät oder einer Fastenkur gemessen werden. Durch mikroskopische Auswertung von Proben aus verschiedenen Körpergeweben könnte die Veränderung der Dicke bzw. Durchlässigkeit der Membran festgestellt werden.

Knochen in Gefahr

Viele Untersuchungsergebnisse zeigen, dass eine überreichliche Zufuhr von Protein für eine erhöhte Knochenbrüchigkeit (Osteoporose) verantwortlich ist. In einer Auswertung von 34 Studien wurde ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Aufnahme von tierischem Protein und der Häufigkeit von Knochenbrüchen der Hüfte festgestellt. Wissenschaftler führen dieses Ergebnis auf eine durch zu viel Protein verursachte Übersäuerung (Azidose) zurück. Beim Abbau von Proteinen entstehen Ammonium- und Sulfationen (aus den Amino- bzw. Schwefelgruppen der Aminosäuren). Um diese Säuren zu neutralisieren, werden aus den Knochen Calciumcarbonate und -citrate freigesetzt, was die erhöhte Knochenbrüchigkeit erklärt. Eine Verdoppelung der Proteinzufuhr steigert bei konstant gehaltener Calcium- und Phosphoraufnahme die Calciumkonzentration im Urin um etwa 50 Prozent. Wer zu viel Protein isst, erhöht also die Säurebelastung seines Körpers und die Calciumkonzentration im Urin. Allerdings ist Protein nicht der einzige Nährstoff, der bezüglich der Knochengesundheit von Bedeutung ist. Auch Calcium, Kalium, Phosphor, Isoflavone, Antioxidanzien, Salz, Oxalat, Phytat oder Koffein beeinflussen die Knochensubstanz.

Mittlerweile sprechen einige Indizien dafür, dass ein Abbau der Knochensubstanz mit einer zu großen Säurebelastung zusammenhängt. Die in Obst und Gemüse enthaltenen organischen Kaliumsalze (Citrate, Malate, Gluconate) führen bei ihrer Verstoffwechselung zur Bildung von basisch wirkendem Kaliumbicarbonat, das Säuren neutralisiert. Eine ausreichende Zufuhr basisch wirkender Nahrungsmittel wie Obst und Gemüse wirkt der Säurebelastung durch tierisches Protein entgegen und beugt somit der Entstehung von Osteoporose vor.

Zuviel Eiweiß belastet die Nieren

Die in Industrieländern übliche eiweißreiche Ernährung hat eine dauernd erhöhte Nierendurchblutung zur Folge. Dadurch werden Eiweiße aus dem Blutplasma nicht mehr ausreichend gefiltert und feinste Gefäße in den Nieren (Glomerulum) geschädigt. Infolge der erhöhten Proteinzufuhr entsteht - wie bereits oben geschildert - vermehrt Ammonium im Stoffwechsel, das von den Nieren ausgeschieden werden muss. Das erhöht das Risiko für Nierensteine erheblich. Denn zum Abpuffern der Säure setzt der Körper Calciumionen aus den Knochen frei. Aus diesen können sich Calciumoxalat- oder Calciumphosphatsteine bilden. Gleichzeitig sinkt die Zitronensäurekonzentration. Damit geht ein wichtiger Schutzmechanismus vor Nierensteinen verloren. Zitronensäure bildet nämlich mit Calciumionen leicht lösliche Komplexe, die der Körper mit dem Urin ausscheidet.

Proteine wirken auf Herz und Kreislauf

Epidemiologische Studien an größeren Bevölkerungsgruppen weisen darauf hin, dass tierisches Protein an der Entstehung von Herz-Kreislauferkrankungen beteiligt ist. Pflanzliches Protein übt dagegen einen Cholesterin senkenden Effekt aus und schützt vor kardiovaskulären Erkrankungen. Dies dürfte zumindest teilweise an den gleichzeitig anwesenden Ballaststoffen, Phytoöstrogenen und anderen Polyphenolen in pflanzlicher Nahrung liegen. Auf den Blutdruck scheinen Proteine einen senkenden Effekt auszuüben. Das lassen zumindest einige Querschnittsstudien vermuten. Interventionsstudien mit Patienten konnten diesen Zusammenhang jedoch nicht bestätigen. Auch ist unklar, ob pflanzliches, tierisches oder Protein generell für diesen Effekt verantwortlich ist. Möglicherweise steigern Proteine die Natriumausscheidung über den Urin, wodurch der Blutdruck sinkt. Denkbar ist auch, dass einzelne Aminosäuren Neurotransmitter oder Hormone beeinflussen, welche an der Kontrolle des Blutdrucks beteiligt sind.

Einige Bevölkerungsstudien sprechen dafür, dass eine höhere Aufnahme von tierischem Protein das Krebsrisiko bestimmter Organe erhöht. Da in den Industrienationen eine hohe Proteinaufnahme aber fast immer mit einem gesteigerten Fettverzehr verbunden ist, lässt es sich schwer abschätzen, ob Nahrungsprotein einen unabhängigen Effekt bei der Krebsentstehung ausübt. Etwa 12,5 Gramm Protein gelangen bei der üblichen Ernährung in Form unverdauter Peptide und Aminosäuren täglich in den Dickdarm und werden dort bakteriell zersetzt. Dabei entstehen toxisch wirkende Phenole, Indole, Amine und Ammoniak. Die erhöhte Freisetzung von Ammoniak lässt den pH-Wert im Dickdarm ansteigen, was als Risikofaktor für Dickdarmkrebs angesehen wird.

Noch viel Forschungsbedarf vorhanden

Eine proteinreiche Kost, die deutlich über der empfohlenen Zufuhr liegt, bringt gesundheitliche Risiken mit sich. Das Ausmaß der Risiken hängt von der Gestaltung der Ernährung als Ganzes und von der individuellen Anpassungsfähigkeit des Körpers an hohe Proteinmengen ab. Im Vergleich zu den Auswirkungen einer zu hohen Fettzufuhr hat sich die Ernährungswissenschaft bislang erstaunlich wenig mit den Konsequenzen einer dauerhaft zu hohen Aufnahme von Protein auseinandergesetzt. Besonders die von Wendt formulierte Hypothese der Eiweißspeicherkrankheiten sollte in Anbetracht dessen, dass etwa 40-50 Prozent der Todesursachen in den Industrieländern auf Herz-Kreislauferkrankungen zurückzuführen sind, einer gründlichen wissenschaftlichen Überprüfung unterzogen werden.

Quelle: Semler, E.: UGB-Forum 3/2003, S. 122-124