Intuitive Ernährung: Essen nach dem Bauchgefühl

Diäten mit strengen Regeln, die alle den einen Traumkörper anpeilen, haben nach wie vor Hochkonjunktur. Hunger, Sättigung oder auch Lust auf Essen werden dabei ignoriert. Wer nach den Grundsätzen der intuitiven Ernährung isst, hört dagegen auf die eigenen Körpersignale.

Kinder passen ihre Nahrungsaufnahme noch intuitiv dem Energiebedarf an und gleichen über mehrere Mahlzeiten hinweg die Zufuhr aus. Diese Fähigkeit geht im Erwachsenenalter meist verloren. Zum einen wird kognitives Wissen über körperliche und emotionale Empfindungen gestellt. Vor allem für viele jüngere Menschen geht es nur noch um schnelles Abnehmen oder effektiven Muskelaufbau. Statt auf den Bauch zu hören, wird streng nach Uhrzeit oder vorgefertigten Plänen gegessen. Eher gedankenlos fällt dagegen bei vielen anderen die Nahrungsaufnahme aus und nicht wenige kompensieren damit Frust, Stress oder Langeweile.

Die Folge: Die Verbundenheit zu den eigenen Bedürfnissen geht verloren und körperliche Reaktionen werden nicht richtig wahrgenommen oder gedeutet. Gegessen wird häufig losgelöst von Genuss und sozialer Komponente wie gemeinsamen Familienmahlzeiten. Vorangetrieben wird diese Loslösung von den eigentlichen Bedürfnissen durch gesellschaftliche Entwicklungen. Lange Fahrtwege zum Arbeitsplatz, Doppelbelastung durch Familie und Beruf oder Schicht- und Nachtarbeit steigern Stress und Hektik im Alltag. Die Wahrnehmung der Körpersignale bleibt auf der Strecke. Auch Emotionen werden so verdrängt. Ersatzbefriedigungen wie Süßigkeiten, Alkohol, Arbeit oder materieller Konsum gleichen stattdessen die unerfüllten Bedürfnisse aus.

Wieder auf den Körper hören

Der Ansatz der intuitiven Ernährung will genau das ändern. Ziel ist es, wieder auf den Körper und seine Bedürfnisse zu hören. Die intuitive Ernährung ist ein „dynamischer Prozess, der Körper, Psyche und Essen in Einklang bringt“, so lautet die Definition der Begründerinnen Evelyn Tribole und Elyse Resch. Die beiden Ernährungswissenschaftlerinnen veröffentlichten in den USA bereits in den 1990er Jahren ihr Konzept. Es beruht darauf, ausschließlich nach Hunger- und Sättigungsgefühl zu essen. Angestrebt wird, stark kontrolliertes und emotionales Essen zu vermeiden.

Die Wissenschaftlerinnen gehen davon aus, dass der Körper aufgrund natürlicher, evolutionärer Anlagen signalisiert, was er wann und in welcher Menge benötigt. Die wichtigsten Regeln der intuitiven Ernährung lauten daher: Es gibt keine Einschränkungen für die Art der verzehrten Lebensmittel. Gegessen wird nur, wenn Hunger auftritt, und das Essen wird beendet, sobald Sättigung eintritt. Lebensmittelauswahl und Essensmenge sollen körperliche, psychische sowie sensorische Bedürfnisse befriedigen. Voraussetzung ist Achtsamkeit gegenüber dem eigenen Körper, um Faktoren wie Hunger, Sättigung oder Lust auf Essen bewusst wahrnehmen und unterscheiden zu können.

Diäten verursachen Stress

Anders ist das bei Diäten mit genauen Essvorschriften. Die auferlegten Restriktionen führen einerseits über eine hormonelle Gegenregulation des Körpers und andererseits über psychische Belastung meist nicht zu einem dauerhaften Erfolg. Etwa 70 bis 80 Prozent der Menschen können nach einer Reduktionsdiät den neuen Lebensstil nicht halten und nehmen wieder zu. Ein wichtiger Faktor ist dabei laut der Vertreter des intuitiven Essens die Loslösung von den eigenen Hunger- und Sättigungssignalen.

Eine Begründung für die schlechte Erfolgsbilanz sind unter anderem Stoffwechselwege, die durch Stress entstehen. Mittlerweile bringen Mediziner viele Krankheiten mit dem Faktor Stress in Zusammenhang. Auch Diäten bedeuten Stress für den Körper: Man nimmt wenig Energie auf, muss sich an Regeln halten, leidet Hunger, entwickelt eventuell Essattacken und muss Rückschläge verkraften. Unter Stress schütten die Nebennieren vermehrt Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin aus. Die Bauchspeicheldrüse setzt daraufhin mehr Insulin frei. Evolutionär gesehen war dies die Vorstufe zur Flight-or-Fight-Reaktion – entweder kämpfen oder fliehen. Um dafür Energie zur Verfügung zu stellen, steigt der Appetit auf die schnellen Energielieferanten Zucker und Fett. Gleichzeitig sorgt das Cortisol dafür, dass diese ständig ins Blut abgegeben werden. Ohne eine tatsächliche Flight-or-Fight-Reaktion führt eine solche Stressreaktion zu höheren Blutzuckerspiegeln und zum Aufbau von Fettdepots, insbesondere am Bauch. Abnehmerfolge bleiben aus. Es ergibt sich ein regelrechter Teufelskreis aus Diät, Stress und Gewichtszunahme.

Ein Weg aus der Diätfalle

Im Vordergrund der intuitiven Ernährung steht die Gesundheit und nicht die Form des Körpers. Trotz fehlender Vorgaben zeigen einzelne Studien, dass intuitive Esser nicht mehr fett- oder zuckerreiche Lebensmittel verzehren als andere Menschen. Vielmehr ernähren sie sich eher so, dass Gewichtsschwankungen vermieden werden.

Vertreter der intuitiven Ernährung sind überzeugt, dass ein gesunder Körper nach Normalgewicht strebt. Studien zeigen bei intuitiven Essern tatsächlich eine verminderte Kalorienzufuhr und einen verringerten Body Mass Index um bis zu zwei Punkten. Das Verlangen nach fett- und zuckerreichen Lebensmitteln wie Chips, Schokolade oder Torte lässt Erfahrungsberichten zufolge von alleine nach und parallel signalisiere der Körper das Bedürfnis nach gesunden Lebensmitteln.

Intuitiv essen tut der Psyche gut

Ein weiterer Vorteil der intuitiven Ernährung liegt laut der Initiatorinnen bei positiven Effekten auf die Psyche. Das Verhältnis zum Essen wird als weniger belastend empfunden, Selbstwertgefühl und Körperakzeptanz steigen. Das eigene Schönheitsideal, eine falsche Körperwahrnehmung, Unzufriedenheit und Emotionalität beim Essen verändern sich. Eine Studie konnte zeigen, dass durch intuitive Ernährung Essstörungen bei Frauen um bis zu 40 Prozent und bei Männern um bis zu 75 Prozent seltener auftraten. Um diese Effekte zu erfassen, arbeiten Forscher mit der sogenannten „Intuitive Eating Scale 2 (IES-2)“, einem Katalog aus 23 Aussagen bezüglich des eigenen Verhältnisses zum Essverhalten und zur Körperwahrnehmung. Entwickelt wurde die Skala von Gesundheitspsychologen in den USA und mittlerweile für weitere Forschungsarbeiten überarbeitet.

Studien bestätigen positives Körpergefühl

Positive Effekte auf die Körperakzeptanz und die Lebensfreude zeigte auch ein Experiment mit 18 Teilnehmern der Wissenschaftssendung Quarks im letzten Jahr. Zunächst wurden die Teilnehmer sechs Wochen lang begleitet, unter anderem mit Achtsamkeitsübungen. Nach drei Monaten erfasste ein Team aus Wissenschaftlern und Reportern die Effekte des Esstrainings. Alle bestätigten eine größere Zufriedenheit, ein besseres Körpergefühl und Erleichterung, sich nicht mehr nach Ernährungsregeln zu richten. Einige nahmen etwas an Gewicht zu, andere brachten etwas weniger auf die Waage. Gesundheitsparameter wie Blutzucker- oder Blutfettwerte wurden nicht erhoben.

Britische Wissenschaftler, die in einer Meta-Analyse 26 Veröffentlichungen zu intuitivem Essen auswerteten, kamen ähnlich wie verschiedene Einzelstudien zu dem Ergebnis, dass intuitives Essen den Body Mass Index und verschiedene psychologische Gesundheitsindikatoren positiv beeinflusst. Möglicherweise könne diese Ernährungsweise auch die Nahrungsaufnahme und/oder das Essverhalten verbessern, so das Fazit der Forscher. Eine aktuelle Arbeit aus der Schweiz analysierte zehn Studien zum intuitiven Essen. Demnach führt diese Ernährungsweise zu einem signifikanten Gewichtsverlust und könne eine sinnvolle Alternative zu herkömmlichen Diäten sein.

Kontrolle und Essregeln ablegen

Wer sich bei der Ernährung voll auf seine Intuition verlassen möchte, muss die Kontrolle über die Nahrungszufuhr und die Lebensmittelauswahl an seinen Körper abgeben. Das braucht Übung und Gewohnheit. Die Begründerinnen haben dazu einige Regeln für die Umsetzung aufgestellt. Regel Nummer eins lautet: Es gibt keine Regeln. Viele überfordert das anfangs, da die meisten Menschen mit einer Fülle an Ernährungsratschlägen groß geworden sind. Wichtig sei, dass man sich langsam an achtsames Essen herantaste, Lebensmittel bewusster auswähle und vor allem die ansteigende Sättigung mit allen Sinnen wahrnehme. So sollte jeder genau beobachten, ob er beispielsweise immer um die gleiche Uhrzeit isst, auch wenn noch gar kein Hungergefühl vorhanden ist. Oder wird vielleicht nur aus Höflichkeit gegessen, bis der Teller leer ist? Geraten wird zudem, dass eigene Essverhalten anzunehmen, auch wenn es nicht immer gelingt, auf den eindeutigen Hunger zu warten, beispielsweise beim spontanen Ausgehen mit Freunden. Vielmehr gelte es, auf den automatischen Ausgleich bei den folgenden Mahlzeiten zu vertrauen. Die Ernährungsweise sollte dauerhaft in das eigene Leben passen und nicht anders herum.

10 Prinzipien des intuitiven Essens (nach Tribole und Resch)

    1. Diätmentalität ablegen: Diätbücher und Zeitschriftenartikel wegwerfen. Nicht auf eine neue und bessere Ernährung oder einen neuen Ernährungsplan hoffen. Nur so lässt sich intuitives Essen wiederentdecken.
    2. Den Hunger achten: Den Körper mit ausreichend Energie und Kohlenhydraten ernähren. Übermäßigen Hunger vermeiden, stattdessen bewusst das erste biologische Signal eines Hungergefühls wahrnehmen lernen. Das schafft die Voraussetzungen, um das Vertrauen in sich selbst und in die Nahrung wiederherzustellen.
    3. Mit dem Essen Frieden schließen: Erlaubt sind alle Lebensmittel. Verbotenes Essen kann zu unkontrollierbarem Verlangen und häufig zu Essattacken führen.
    4. Die innere „Lebensmittelpolizei“ herausfordern: Niemand ist schlecht, nur weil er ein Stück Schokoladenkuchen gegessen hat. Die „Polizeistation“ ist tief in der Psyche verankert und ruft Schuldgefühle hervor.
    5. Zufriedenheit entdecken: Vergnügen und Zufriedenheit beim Essen erfahren. Daraus erwächst eine starke Kraft, die hilft, genau die richtige Menge an Essen zu benötigen und zu entscheiden, wann es genug ist.
    6. Sättigung fühlen: Die Lebensmittel essen, die man sich wünscht, und auf die Körperzeichen achten, die keinen Hunger mehr signalisieren. Während des Essens eine Pause machen und sich fragen, wie das Essen schmeckt und wie hoch der aktuelle Hunger noch ist.
    7. Emotionen mit Freundlichkeit statt mit Essen bewältigen: Probleme und Gefühle wie Angst, Einsamkeit, Langeweile und Wut haben ihre Berechtigung. Essen wird keines dieser Gefühle beheben und Probleme nicht lösen.
    8. Den eigenen Körper respektieren: Die genetische Ausstattung akzeptieren. Es ist schwer, die Ernährungsmentalität abzulehnen, wenn unrealistisch und übermäßig kritisch gegenüber der eigenen Körpergröße oder -form gedacht wird. Alle Körper verdienen Würde.
    9. Aktiv werden und den Unterschied spüren. Darauf konzentrieren, wie Bewegung sich anfühlt, statt auf den kalorienverbrennenden Effekt zu achten. Den Fokus auf das Gefühl beim Training zu legen, kann die Entscheidung beeinflussen, ob man für einen flotten Morgenspaziergang aus dem Bett kommt oder die Schlummertaste drückt.
    10. Die Gesundheit mit guter Ernährung wertschätzen: Lebensmittel auswählen, die Gesundheit und Gaumen gut tun und gleichzeitig ein positives Gefühl vermitteln. Man muss nicht perfekt essen, um gesund zu sein.

Die intuitive Ernährung fällt für jeden Menschen individuell aus und ist nicht klar definierbar. Daher lässt sie sich auch nicht mit anderen ernährungsphysiologisch ausgerichteten Ernährungsformen oder einer vollwertigen Ernährung vergleichen. Dennoch ist gesunde Ernährung letztendlich das Ziel des Konzepts. Vom individuellen Startpunkt aus kann es sein, dass zum Beispiel beim Aufgeben von restriktiven Diätzwängen zunächst ein Stillen der verbotenen Gelüste stattfindet und Schokokuchen statt Obst im Einkaufskorb landet. Dies hält nach Erfahrungen aus Beobachtungstudien in der Regel aber nur einige Tage an und wird immer schwächer. Mit Übung und Zeit lassen sich die Signale des Körpers besser wahrnehmen. So soll sich eine gesunde Ernährungsweise ohne Verbote und mit Genuss und Freude am Essen auf ganz natürliche Weise einstellen.

Langfristig Erfolge bleiben fraglich

Großer Schwachpunkt: Bislang gibt es zu langfristigen Effekten keine Studien. Angesichts eines ständig verfügbaren Nahrungsangebots, das zum großen Teil aus industriell hergestellten, fett- und zuckerreichen Lebensmitteln besteht, gibt es doch Zweifel, ob intuitives Essen kombiniert mit gesundem Essverhalten auf Dauer gelingen kann. Wie sollen Menschen, die bislang Fast Food und Fertiggerichte bevorzugt haben, ohne Begleitung zu einer besseren Qualität der Ernährung finden? Oft fehlen ja bereits die Fähigkeiten, sich aus frischen Lebensmitteln selbst etwas Leckeres zuzubereiten. Wer von klein auf den Industriegeschmack gewohnt ist, kann kaum wissen, wie gut unverarbeitete und qualitativ hochwertige Lebensmittel schmecken.

Mehr auf die Signale seines Körpers zu hören und nur zu essen, wenn man wirklich Hunger hat, und vor allem aufzuhören, wenn man satt ist, führt sicherlich bei vielen zu bewussterem Essen. Achtsamer mit sich und seinen Bedürfnissen umzugehen und nachzuspüren, worauf man wirklich Lust hat und was dem Körper gut bekommt, sind ebenfalls sinnvolle Ansätze, um zu einem entspannteren und gesünderen Essverhalten zu gelangen. Zugleich empfiehlt es sich aber, die Menschen auch an eine vollwertige Lebensmittelauswahl und die praktische Umsetzung heranzuführen.

Bild © dolgachov/123RF.com

Stichworte: Intuitive Ernährung, Hunger, Sättigung, Körpersignale, Ernährungsverhalten, Emotionen, Genuss


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Vitamine: Kleine Dosis – große Wirkung


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