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Migrantenberatung: Gesund sind wir stark

Ernährungsberatung von Migranten gilt als schwierig. Kommen die Berater aus demselben kulturellen und sprachlichem Umfeld, erreichen sie Familien mit türkischem oder arabischem Migrationshintergrund plötzlich viel leichter. Wie das gelingt, zeigt das Berliner KINDERLEICHT-Projekt "Gesund sind wir stark! - Saglikli daha güçlüyüz!".

Kinder mit türkischem oder arabischem Migrationshintergrund sind doppelt so häufig übergewichtig wie ihre deutschen Altersgenossen. Diese Erkenntnis brachte Berliner Gesundheitsförderer dazu, ein Präventionsprojekt ins Leben zu rufen. Seit dem Frühjahr 2007 beraten 60 zum Teil muttersprachliche Multiplikatoren im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg junge Familien. Im Zentrum der Beratung stehen die Themen „Ausgewogene Familien­ernährung“ und „Regelmäßige Bewegung“ im Alltag. Das Projekt ist eins von 24 regionalen Projekten, die als Preisträger aus einem Wettbewerb des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz hervorgingen. Diese sogenannten „KINDERLEICHT“-Regionen werden über drei Jahre vom Bund gefördert. (www.besseressenmehrbewegen.de)

Türkische und arabische Schüler häufiger dick

Im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg liegt der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund bei durchschnittlich 36,6 Prozent. In einigen Ortsteilen fällt dieser Anteil noch höher aus. So haben im Westteil Kreuzbergs 62 Prozent der Menschen einen Migrationshintergrund. Ein Großteil der Familien mit Migrationshintergrund ist türkisch oder arabisch geprägt. Bezogen auf die Kinder bedeutet das: Lediglich 46,1 Prozent der eingeschulten Grundschüler sind deutscher Herkunft, 26,4 Prozent der Erstklässler sind türkischer, 9,3 Prozent arabischer Herkunft. In Friedrichshain-Kreuzberg liegt der Anteil übergewichtiger, nicht adipöser Kinder zum Zeitpunkt der Einschulung bei 7,1 Prozent. 5,5 Prozent der Kinder sind sogar adipös, das heißt krankhaft übergewichtig. Kinder mit türkischem und arabischem Migrationshintergrund sind mit 12,4 bzw. 9,2 Prozent wesentlich häufiger übergewichtig. Sie sind mit 9,8 Prozent bzw. 10,3 Prozent auch wesentlich häufiger adipös als ihre Altersgenossen deutscher Herkunft (4,2 Prozent übergewichtig, 2,6 Prozent adipös).

Mehr Fernsehen – weniger Sport

Immer wieder wird nach Besonderheiten im Ernährungsverhalten der türkischen und arabischen Familien gefragt. Die Multipli­katoren aus unserem Projekt beschreiben es so: Einerseits wird mehrheitlich nach wie vor traditionell türkisch oder arabisch gekocht und gegessen. Zusätzlich werden deutsche bzw. westlich-internationale Snacks konsumiert: Schokolade, Bonbons, salzige Snacks wie Chips und Softdrinks als Getränke. Stärker verbreitet als in einer deutschen Familie scheint die Norm, dass immer etwas Essbares auf dem Tisch zu stehen hat. Häufig sind Verwandte oder Freunde zu Gast und es ist üblich, sie üppig zu bewirten. Auch den Kindern soll es beim Essen und Trinken an nichts fehlen. Laut einer Sonderauswertung der KiGGS-Studie konsumierten türkische Kinder und Jugendliche mehr Erfrischungsgetränke, Leitungswasser, Müsli und andere Frühstückscerealien, Weißbrot, Graubrot und Brötchen, Frischkäse, Suppe, frittierte und gebratene Kartoffeln, Nuss-Nougatcreme und Knabberartikel als Kinder und Jugendliche anderer Herkunft. Das heißt, sie verzehrten mehr als eher „gesund“ angesehene Lebensmittel (beispielsweise Leitungswasser), aber auch mehr von den als eher „ungesund“ eingestuften Lebensmitteln (zum Beispiel Erfrischungsgetränke) als Kinder und Jugendliche deutscher Herkunft. Es scheint also vor allem die Menge an Lebensmitteln zu sein, die bei türkischen und arabischen Kindern höher liegt als bei deutschen. Aus anderen Auswertungen weiß man, dass Kinder mit türkischem Migrationshintergrund seltener im Verein, also systematisch geförderten Sport treiben als deutsche Gleichaltrige.

Die Bedeutung, die einer bewussten Bewegungsförderung von Säuglingen, Klein- und älteren Kindern zukommt, wird von den türkischen und arabischen Eltern besonders unterschätzt. 57,1 Prozent der türkischen und 56,5 Prozent der arabischen Erstklässler in Berlin schauen ein bis zwei Stunden täglich fern, aber nur 31,3 Prozent der deutschen Erstklässler. Rund 28 Prozent der türkischen oder arabischen Erstklässler in Berlin haben einen eigenen Fernseher im Kinderzimmer, aber nur 14 Prozent der deutschen.

Muttersprachliche Berater haben Erfolg

Diese Zahlen, die seit Jahren ähnlich aussehen, veranlassten die Plan- und Leitstelle Gesundheit des Bezirksamtes Friedrichshain-Kreuzberg, das Projekt „Gesund sind wir stark“ ins Leben zu rufen. Die Projektleitung hat das ZAGG, Zentrum für angewandte Gesundheitsförderung und Gesundheitswissenschaften inne. Die Plan- und Leitstelle Gesundheit im Bezirk pflegt als Koordinierungsstelle für Gesundheitsförderung zahlreiche Kontakte zu Stadtteilinitiativen, zu Beratungsstellen in freier Trägerschaft oder des Bezirksamtes selbst und ist in mehreren Arbeitskreisen vertreten („Gesundheitsförderung vor und nach der Geburt“, „Migration und Gesundheit“ u. v. m.). Über die persönliche Ansprache dieser Initiativen und Beratungsstellen wurden Laien (Hausfrauen bzw. Vertreter nicht beratungs- oder gesundheitsbezogener Berufe) und Professionelle aus dem Beratungs- und Gesundheitsbereich (Hebammen, Erzieher, Sozialarbeiter) gewonnen, die ein mehrmonatiges Training durchliefen. Die Laien wurden zu sogenannten Gesundheitsmentoren, die Professionellen zu Gesundheitstrainern ausgebildet. Da im Bezirk Bürger mit türkischem und arabischem Migrationshintergrund stark vertreten sind, gelang es, einen hohen Anteil an Muttersprachlern für das Beratungsprojekt zu gewinnen. Die Teilnahme an der Grundqualifizierung und der anschließenden Supervisionsphase waren für Mentoren und Trainer kostenlos.

Die Zielgruppe erreichen

„Gesund sind wir stark“ hat die Prävention von Fehlernährung und Bewegungsmangel in einem sehr frühen Alter der Kinder, nämlich von 0 bis 3 Jahren im Fokus. Es werden also vor allem Schwangere und ihre Angehörige beraten, stillende Mütter, Eltern und andere Angehörige mit Säuglingen und Kleinkindern. Beratung wurde hier definiert als jedes ernährungs- und bewegungsbezogene Gespräch, das sich den Projektzielen verschrieben hat. Die Besonderheit dieses Projekts wie auch einiger anderer KINDERLEICHT-Projekte ist, dass die Multiplikatoren bzw. Beraterinnen (überwiegend Frauen) die Nähe zu der Zielgruppe bereits mitbringen. Dadurch, dass sie so verschieden aufgestellt sind, erreichen sie türkische und arabische Familien an ganz unterschiedlichen Orten und in ganz unterschiedlichen privaten oder öffentlichen Zusammenhängen

Qualitätszirkel fördern Fortbildung

Die Mentoren und Trainer entwickelten im Verlauf des Projektes selbst Ideen, wann und wo sich Gelegenheiten für eine mögliche Beratung ergeben könnten. Es wurden lediglich die Fachinhalte und das methodische Rüstzeug für die Beratung vermittelt. Das Grundtraining verlief über ein halbes Jahr; dabei absolvierten die Trainer elf ganze Tage, die Mentoren erhielten die doppelte Schulungszeit. Dem Grundtraining schließen sich regelmäßige Qualitätszirkel (alle 6 Wochen) bis Ende 2009 an. Das Wissen wurde durch selbstständige Arbeitsleistungen (Referate, Gruppenarbeitsergebnisse), bei den Mentoren zusätzlich durch eine Abschlussklausur geprüft:

  • Ernährung vor und nach der Geburt für Mutter und Kind
  • Ernährung des Kleinkindes/Kindes
  • Bewegung in der Schwangerschaft
  • Bewegungsförderung im Kleinkind- und Kindesalter
  • Vermeidung von Übergewicht in unterschiedlichen Lebensphasen
  • systemische Beratungsmethodik in unterschiedlichen Beratungskontexten

Durch regelmäßige Qualitätszirkel und Supervisionen halten die Beraterinnen ihr Wissen und ihre Methodenkenntnis fortlaufend aktuell; eine bestimmte Anzahl von Terminen ist dabei Pflicht. Gleichzeitig werden sie über Gelegenheiten zur Selbstinformation aufgeklärt. So können sie auch im Anschluss an den Förderzeitraum jederzeit Informationen auffrischen und aktualisiert beraten. Das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg dient dabei als dauerhafte Anlaufstelle. Die Mentoren und Trainer werden darin unterstützt, systematisch Beratungsgelegenheiten zu ergreifen – sich z. B. langfristig in Stadtteilinitiativen einzubringen –, in dem Projektmitarbeiter Kontakte für sie herstellen und Aufträge vermitteln.

Erfolge und Fazit

Seit Beginn der Maßnahme sind die Multiplikatoren in sehr unterschiedlichen Zusammenhängen und mit unterschiedlichen Beratungsansätzen aktiv. Eine Erzieherin (Trainerin) beispielsweise hat in ihrer Kita eine Ernährungs-Ecke für Kinder eingerichtet, die regelmäßig bespielt wird und von den Kindern selbstständig aufgesucht werden kann. Eine Mentorin spricht einmal wöchentlich mit Frauen im Kulturverein über gesunde Ernährung und Bewegungsförderung bei Kindern. Bisherige Erfahrungsberichte zeigen, dass die beratenen Familien großes Interesse und eine große Bereitschaft haben, das Besprochene umzusetzen. In einer Befragung aller Beraterinnen wird derzeit ermittelt, welche Erfolge sich bei systematisch Beratenen inzwischen zeigen.

Das Projekt hat uns als Initiatoren gezeigt: Eine als schwierig geltende Zielgruppe wie Menschen mit Migrationshintergrund erreicht man dann leichter, wenn man sich an Menschen wendet, die diese Zugänge bereits haben. Indem wir sie mit unseren Stärken wie ernährungs-, sportwissenschaftliche und methodische Fachkompetenz und dem Projektmanagement unterstützen, gelingt eine Aufklärung und Beratung, die breit in einen Stadtbezirk gestreut ist. Auf diese scheinbar einfache Weise erscheint ein flächendeckender Effekt zur Vorbeugung von Fehl­ernährung und Bewegungsmangel bei Kindern und späteren Erwachsenen plötzlich möglich.

Quelle: Wetzel, S.: UGB-Forum 3/2009, S. 140-143

Foto: michaeljung/fotolia.com