Essstörungen: Schluss mit dem Diätenwahn

Die wenigsten Menschen essen heute noch nach ihrem Hungergefühl. Das Ideal eines schlanken Körpers, das überall präsent ist, lässt das Essen gerade für Frauen zu einer ständig kontrollierten Handlung werden. Essstörungen sind die Folge.

Eine Essstörung entsteht oft langsam und unbemerkt. Fast immer ist das Motiv, nur ein bisschen abnehmen zu wollen, um der Schlankheitsnorm zu entsprechen, nach der ja heutzutage alle leben. Das wäre auch in Ordnung, wenn man sich trotzdem an Hunger und Sattsein orientieren könnte, statt ständig mit dem Kopf zu essen. Wir alle leben permanent mit einem schlechten Gewissen und überlegen uns tagtäglich: „Was habe ich schon gegessen, was darf ich noch, wie war es gestern, wie nehme ich nach dem Wochenende die Kilos wieder ab?“ Es sieht so aus, als habe sich dieses Verhalten schon längst verselbstständigt und als gäbe es nur noch eine einzige akzeptierte Körperform, vor allem bei Frauen, nämlich dünn.

Das Diktat des Schlankheitskults

Für Frauen existierte schon immer eine Vielzahl von Bildern und Bedeutungen des optimalen Körperbildes. Frauen haben sich zu allen Zeiten und in jedem Kulturkreis bemüht, den Körper der jeweiligen Norm anzupassen. Mal galten sie üppig als schön, dann waren Wespentaille und zart-zerbrechliche Figuren das Ideal, bevor wiederum kurvenreiche Frauen als vollkommen angesehen wurden. Seit den sechziger Jahren hat das Schlanksein die allergrößte Bedeutung. Nur dünne Frauen sind angesehen und erfolgreich.

Seitdem haben Essstörungen bei Mädchen und Frauen mehr und mehr zugenommen. Es zeigt sich immer deutlicher, dass der vorhandene Schlankheitswahn ein Teil unserer Normalität geworden ist. Obwohl die angestrebten Körperideale nicht mit den tatsächlichen und natürlichen Frauenkörpern übereinstimmen – nur etwa zehn Prozent können ohne Kontrolle die Kleidergrößen 36/38 tragen –, bemühen sich gerade junge Frauen um jeden Preis, der gängigen Norm zu entsprechen. Da dies nicht ohne Nahrungsverzicht möglich ist, sind dem Verlust von Hunger und Sättigung Tür und Tor geöffnet. Dabei gehen spontanes Essverhalten und die Bedürfnisbefriedigung verloren, das zu essen, wonach einem der Sinn steht. Hier beginnt oft der Weg, der in eine Essstörung führt.

Diäten sind Teil der westlichen Kultur

Frauen scheinen heute viel mehr Möglichkeiten zur Selbstentfaltung und beruflichen Erfüllung zu haben. Und trotzdem leben sie in einer Art neuem Gefängnis. Sie unterwerfen sich einer drastischen Körpernorm und kontrollieren ihren Körper, damit er den von Medien geschaffenen Frauenbild entspricht. Die Modezeitschriften tragen dazu bei, das weibliche Selbstbewusstsein zu untergraben. Dies ist so effektiv, dass es weltweit auf Frauen übergegriffen hat. Diäten sind das Merkmal für die Zugehörigkeit von Frauen zur westlichen Kultur. Viele Frauen sind in ihrer Identität verunsichert, konzentrieren sich auf ihren Körper und machen ihn zum Dreh- und Angelpunkt, was bei essgestörten Frauen ganz deutlich hervortritt. Die essgestörte Frau ist nicht in der Lage, widersprüchliche oder unerfüllbare Erwartungen in Frage zu stellen, sondern beginnt bei sich und stellt sich in Frage. Sie koppelt so ihr Selbstbild und ihre Selbstachtung ganz stark an die von außen vorgegebenen Bilder.

Stellen Sie sich doch einmal selbst ein paar Fragen zu Ihrem persönlichen Essverhalten: Wie ernähren Sie sich und wie gehen Sie mit Ihrem Körper um? Hören Sie auf seine Signale, zum Beispiel Hunger, Müdigkeit, Bewegung oder Ausruhen? Wie wichtig ist Schlankheit für Sie? Wie viele Diäten haben Sie schon gemacht? Ist Essen bei Ihnen zuhause oft ein Thema? Belohnen Sie sich manchmal mit Schokolade oder Süßigkeiten oder trösten Sie sich damit, wenn Sie Kummer haben? Leben Sie in einem ständigen Wechsel von viel essen und dann wieder hungern? Wie viel Kontrolle üben Sie über Ihren Körper und Ihr Essverhalten aus?

Essen ist nicht nur Nahrung für den physischen Körper, sondern ist vielfältig in unser gesamtes Leben eingewoben. Es besitzt eine hohe psychische Bedeutung und wird auf vielen Ebenen benutzt, um Gefühle sowohl positiv wie auch negativ mitzuteilen oder auch um genau dies zu vermeiden. Wir essen aus Geselligkeit, um uns oder anderen etwas Gutes zu tun, um uns zu trösten oder etwas hinunterzuschlucken. Bei einer Essstörung setzen die Betroffenen – ganz überwiegend junge Frauen – das Essen unbewusst ein, um ihre innerpsychischen Konflikte auf der Körperebene auszudrücken. Um sich als passend in dieser Gesellschaft zu erleben, müssten sie anders, dünner aussehen (auch wenn sie dünn sind). Und das versuchen sie unter allen Umständen zu erreichen. Im Alltag dominiert die Auseinandersetzung mit dem Essen den gesamten Tagesablauf und bestimmt auch die sozialen Beziehungen erheblich. Eltern und Partner sind verzweifelt und können nicht nachvollziehen, was da vor ihren Augen geschieht. Ein normalerweise lustvoller und angenehmer Bereich des täglichen Lebens wird zu einem großen Problem.

Pubertät: Zeit der (Des-)Orientierung

Die gängigen Frauenbilder wirken auf Mädchen in der Pubertät besonders fatal. Denn in der Pubertät rückt der Körper in den Mittelpunkt des Bewusstseins. Mädchen erleben die körperlichen Veränderungen als etwas, was sie nicht kontrollieren können. Sie sind verunsichert, ob die Form, die im Entstehen ist, auch der gesellschaftlichen Norm von Schlankheit entspricht. In dieser Zeit ist das Ringen um Selbstständigkeit und Ablösung sehr groß. Gleichzeitig ist die Abhängigkeit von Mutter und Vater noch einmal bedeutungsvoll, da Jugendliche in der Pubertät sowohl cool sein wollen wie auch manchmal noch ganz klein und bedürftig. In dieser Phase unvorsichtig geäußerte Bemerkungen über Aussehen und Körper können fatale Folgen haben. Denn oft besteht bereits eine Verunsicherung über das eigene Aussehen oder die völlig autonom ablaufenden körperlichen Veränderungen. Beide Geschlechter sind in dieser Lebensphase leicht zu verunsichern und fühlen sich schnell angegriffen. Und Kritik am eigenen Körper ist insofern besonders schlimm, weil man diesen ja nicht einfach verändern kann. Kleine Bemerkungen von Mutter oder Vater wie „Du könntest ruhig ein bisschen abnehmen“ oder „Dein Busen ist ja ganz schön gewachsen“, können ungeahnte Selbstzweifel auslösen.

Ganz entscheidend ist es, dass die Erziehenden selbst die eigene Einstellung zum gängigen Schönheitsideal und zu Diäten überprüfen. Wenn Mütter, Väter oder Lehrer ständig Übergewicht als schrecklich darstellen und Themen wie zu dick sein und abnehmen müssen aufgreifen, dann ist das nicht förderlich für die jungen Menschen. Erwachsene sind nun einmal deren Vorbilder und tragen dementsprechend Verantwortung. Fatalerweise sind es oft die Mütter – aber auch schlankheitsfixierte Väter –, die den Boden bereiten für körperliche Verunsicherung und das Gefühl, unvollkommen zu sein. Die wenigsten Mütter sind mit dem eigenen Essverhalten zufrieden, da sie selbst unter dem öffentlich propagierten Schlankheitswahn leiden.

Vorbeugen durch Zuhören und Stärken

In der Prävention von Essstörungen kann es nur darum gehen, jugendliche Frauen zu stärken und sie beim Aufbau von Selbstvertrauen und Selbstachtung zu unterstützen. Dazu ist es wichtig zuzuhören, als Gesprächspartner zur Verfügung zu stehen und Gefühle zuzulassen. Väter sollten sich nicht aus Unsicherheit zurückziehen, sondern ihren Kindern in der schwierigen Zeit der Pubertät signalisieren: „Du bist in Ordnung und Leistung ist nicht alles.“ Hilfreich ist es, wenn Eltern und Pädagogen sich selbst mit dem Schlankheitsideal und dessen krankmachender Wirkung auseinandersetzen. Ebenso ist es notwendig, Jugendliche über einen gesunden Lebensstil und gesunde Ernährung aufzuklären und dieses auch gemeinsam mit ihnen umzusetzen, das heißt Vorbild zu sein. Spannungen und Konflikte sollten zugelassen und ausgehalten werden. Eltern müssen andere Meinungen der Jugendlichen tolerieren, damit sich ihre Kinder von ihnen lösen können. Dazu gehört auch, dass Jugendliche Fehler machen dürfen. Fehler anzunehmen und Störungen aushalten zu lernen, ist ein gemeinsamer Prozess von allen in der Familie. Oft ist diese Entwicklung langwierig, da der Reifungsprozess von Persönlichkeit und Seele im Vordergrund steht und es keine Rezepte gibt für einfache Lösungen solch schwieriger Prozesse.

Familienstrukturen sind entscheidend

Aus familientherapeutischer Sicht sind Essstörungen keine individuellen Krankheiten, sondern Familienkrankheiten. Es existieren in Familien sowohl unterstützende (funktionale) als auch entwicklungshemmende (dysfunktionale) Regeln und Muster des Zusammenlebens. Dysfunktionale Systeme zeichnen sich durch hohe Kontrolle unter den Familienmitgliedern aus. Sie fordern die Unterordnung und Fügsamkeit des Einzelnen und verhindern auf diese Weise die Entwicklung einer autonomen Persönlichkeit. In diesen Familien gewinnen die Kinder wenig Selbstsicherheit und bleiben unselbstständig. Ungelöste Konflikte und das Verdrängen von Ärger und Wut tragen zur Dysfunktionalität bei. In funktionalen Systemen lernen Kinder dagegen, ihre Bedürfnisse zu identifizieren und angemessen auf sie zu reagieren. Wenn die grundlegenden Bedürfnisse nach Kontakt, Selbstständigkeit, Wohlbefinden, Annahme, Sicherheit und Getragenwerden weitgehend erfüllt sind, entsteht eine Grundsicherheit im Leben, die wir Urvertrauen nennen.

In funktionalen Systemen erfahren Kinder drei wesentliche Grundlagen des Umgangs miteinander: Verantwortung, Beziehung und Realitätseinschätzung. Das bedeutet, dass sie Verantwortung für sich und ihre Beziehungen übernehmen und beziehungsfähig werden. Auf diese Weise sind Jugendliche in der Lage, ihre innere Realität (Einstellungen, Gefühle, Bedürfnisse) und die äußere Realität (die soziale Situation, Erwartungen und Bedürfnisse anderer) getrennt voneinander wahrzunehmen und miteinander in Einklang zu bringen. Wenn Jugendlichen diese Balance gelingt, werden sie auch eher dem gesellschaftlichen Druck, schlank sein zu müssen, widerstehen können.

Quelle: Graf-Scheffl G. UGB-Forum spezial: EssStörungen, S. 17-19
Foto: P.G. Meister/pixelio.de