Gesund essen - Eine Frage des Geldes?

Die Bundesbürger greifen immer häufiger zu Fast Food, Fertigprodukten und Süßigkeiten. Besonders Menschen mit niedrigem Einkommen und geringer Bildung ernähren sich schlechter als Besserverdienende. Doch allein am Geld liegt es nicht.

Gesund essen - so nicht

"Nicht Armut ist das Hauptproblem der Unterschicht. Sondern der massenhafte Konsum von Fast Food und TV." Mit dieser provokanten Aussage sorgte der Soziologe Paul Nolte Ende 2003 für Diskussionen. In einem Artikel in der Wochenzeitung Die Zeit beschäftigt er sich unter anderem mit der wachsenden Zahl übergewichtiger Kinder. Der Gesellschaftskritiker hält es für eine Legende, dass "gute und vernünftige Ernährung" teuer sei. Wenn nicht am Geldbeutel, woran liegt es dann, dass sozial benachteiligte Menschen sich ungesünder ernähren als besser Verdienende? Und stimmt diese Behauptung überhaupt?

Arme Menschen leben ungesünder

Eindeutig belegt ist, dass ein niedriges Einkommen und ein geringer beruflicher Status beziehungsweise Bildungsabschluss ein höheres Risiko für Übergewicht mit sich bringen. Darüber hinaus treiben Menschen mit niedrigem Einkommen auch weniger Sport, rauchen mehr, sind stärkeren Arbeitsbelastungen ausgesetzt und leben in schlechteren Wohnverhältnissen. Dementsprechend steigt die Anfälligkeit für Herz-Kreislauferkrankungen, Diabetes mellitus und zahlreiche andere Krankheiten.

Kinder, die bereits in Armut aufwachsen, sind häufiger übergewichtig als Söhne und Töchter wohlhabender Eltern. Das zeigen die Schuleingangsuntersuchungen jedes Jahr aufs Neue. Und obwohl sich diese Zusammenhänge bereits seit Jahrzehnten abzeichnen, gibt es in Deutschland keine repräsentativen Erhebungen über Ernährung in Armut oder in armutsnahen Einkommenslagen. Denn an den großen Querschnittsstudien, wie etwa der Nationalen Verzehrsstudie, nehmen arme Haushalte häufig nicht teil. Trotz dieser Mängel zeigen verschiedene Studien einen Zusammenhang zwischen der Schichtzugehörigkeit und der Verzehrshäufigkeit von Lebensmitteln. So essen sozial benachteiligte Menschen tendenziell weniger frisches Obst und Gemüse, Milchprodukte, Frischfleisch und fettarme Fleischerzeugnisse. Im Vergleich zu besser gestellten Haushalten kommen bei ihnen häufiger Konserven, fettreiches Fleisch und billige Wurstsorten auf den Tisch. Besonders hoch ist auch der Anteil an Fertig- und Halbfertigprodukten mit hohem Fettgehalt und geringer Nährstoffdichte, wie etwa Pommes frites.

Hartz IV zu wenig für vollwertiges Essen

Arme Kinder essen weniger Vollkornbrot, Obst und Gemüse und greifen dafür häufiger zu Limonade, Chips und Fast Food. Der Historiker Nolte behauptet zu recht: "Jede zu Hause zubereitete Mahlzeit aus Kartoffeln und Gemüse, aus Vollkornbrot und Käse ist billiger zu haben als die Dauerernährung in Imbissbude und Schnellrestaurant." Realistisch betrachtet ist zwar der Hartz-IV-Satz zu niedrig, um sich ausschließlich außer Haus zu verpflegen. Tatsache ist aber auch, dass Weißbrot noch weniger kostet als Vollkornbrot und Konserven in vielen Fällen günstiger sind als das frische Gemüse. Im Durchschnitt ist vollwertiges Essen - selbst wenn keine Bioprodukte gekauft werden - um ein Drittel teurer als "billiges". Das haben Wissenschaftler aus Bremen bereits in den 90er Jahren in einer Marktuntersuchung errechnet. Aktuellere und genauere Daten gibt es nicht. Denn die exakten Kosten einer gesunden Ernährung lassen sich nur mit Hilfe von vollständigen Kostplänen berechnen, die sich über einen längeren Zeitraum erstrecken.

gesund essen - wichtige Lenbensmittel in der Vollwert-Ernährung

Weniger aufwändig war ein Experiment der Fernsehsendung Planet Wissen. Ein Reporter des Magazins ließ sich von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) die Tagesration für eine 35-jährige Frau und ein zehnjähriges Kind zusammenstellen. Selbst in einem sehr günstigen Supermarkt bezahlte er 8,39 Euro, um die empfohlenen Lebensmittel einzukaufen. Würde man Bioproödukte bevorzugen käme man sogar auf mindestens zehn Euro, selbst wenn man diese ausschließlich im Discounter kauft (siehe Tabelle). Da die Mutter Arbeitslosengeld II bezieht, stehen ihr und ihrem Kind aber nur gut sieben Euro pro Tag für Essen und Trinken zur Verfügung. Für eine ausgewogene Ernährung müsste sie also jeden Monat 40 Euro mehr ausgeben, als vom Staat vorgesehen.

Soziale Kontakte leiden

Das genannte Beispiel lässt zudem die sozialen Aspekte des Essens und Trinkens unberücksichtigt. So gehört zu fast jedem geselligen Beisammensein - ob in Kneipe, Cafe oder zu Hause - auch die Nahrungsaufnahme. Wer kann sich schon ein Kaffeekränzchen ohne Kaffee oder einen Kindergeburtstag ohne Kuchen vorstellen? Auf solche Aktivitäten verzichten zu müssen, ist "fast so schlimm wie Isolationshaft", schreibt Martin Bucher in seiner Diplomarbeit. Der Koch und Diplom-Oecotrophologe führte Ende der 80er Jahre einen Selbstversuch durch und ernährte sich einen Monat lang vom Tagessatz der Sozialhilfe, damals noch 6,80 D-Mark. "Ich für meine Person habe es zwar geschafft, mit meinen Kenntnissen und Fähigkeiten, mich (...) zu ernähren, ohne ernährungsphysiologische Mangelerscheinungen davonzutragen, aber: Essen bedeutet nicht nur Nahrungsaufnahme." Um Freunde einzuladen oder in Kneipen zu treffen war kein Geld mehr übrig.

Gesund Essen: Haushälterische Fähigkeiten erforderlich

Buchers Selbstversuch macht darüber hinaus deutlich, dass gesund essen mit wenig Geld nur dann möglich ist, wenn man stets dort einkauft, wo es am billigsten ist, Sonderangebote nutzt und eine rationelle Vorratshaltung betreibt. Doch insbesondere armen Familien fehlen dazu die Möglichkeiten und Voraussetzungen. Während der Fernseher in Deutschland zur Standardausstattung zählt, ist eine Gefriertruhe Luxus. Manche Wohnungen verfügen noch nicht einmal über einen kühlen Vorratskeller. Dabei lässt sich durch Großeinkäufe häufig Geld sparen - vorausgesetzt, man hat ein Auto, mit dem man die großen Mengen auch transportieren kann. Teilweise greifen arme Haushalte auch deshalb nicht zu Großpackungen, weil ihnen vor allem am Monatsende das Geld dafür fehlt.

Solche Beispiele zeigen, wie ein geringes Einkommen indirekt dazu führt, dass arme Haushalte ihr begrenztes Budget nicht optimal einsetzen können. Wer sich auch mit wenig Geld und eingeschränkten Handlungsspielräumen gesund ernähren will, braucht demnach mehr haushälterisches Geschick als ein Durchschnittsverdiener. Genau daran mangelt es aber immer mehr Menschen - und zwar quer durch alle Gesellschaftsschichten.

Wie wichtig küchen- und haushälterische Kompetenz für das Ess- und Trinkverhalten sind, beschreibt die Gießener Armutsstudie GESA an 15 Beispielfamilien. Unter den Familien mit geringem Einkommen gibt es durchaus Haushalte, die sich vielfältig ernähren und zum Beispiel Ernteprodukte aus dem eigenen Garten verarbeiten. Die befragten Frauen sind jeweils in Familien aufgewachsen, die trotz niedrigem sozialen Status Wert auf eine abwechslungsreiche Ernährung gelegt haben. Andere Familien aber essen zu einseitig und zu fett und damit nicht gesundheitsfördernd. Ihnen fehlen nicht nur Fähigkeiten und Fertigkeiten bei der Zubereitung von Mahlzeiten, sondern ganz allgemein das Interesse an der Ernährung.

Gesund Essen: Alltagsprobleme stehen im Vordergrund

Für die meisten Menschen, die in Armut leben, ist ihre ungesunde Ernährung schlichtweg nicht das größte Problem, das sie unmittelbar lösen müssen. Eine Befragung von 100 Ulmer Sozialhilfeempfängerinnen hat gezeigt, dass für fast jede der Frauen die Bewältigung von Alltagsproblemen wichtiger war, als das Essverhaltens zu ändern. Wie zu erwarten, wählten sie Lebensmittel vor allem nach dem Preis aus. Überraschenderweise sind ihnen die Vorlieben ihrer Kinder aber mindestens genauso wichtig. Sie wollen ihren Kindern etwas Gutes tun, um sie für armutsbedingte Belastungen zu entschädigen und ihnen den Außenseiterstatus in Schule und Kindergarten zu ersparen. So landen eher Marken-Schokoriegel und fettige Snacks im Schulranzen als Käsebrot und Apfel. Und von selbst werden sich die Kids sicher nicht für die "gesunde" Variante entscheiden.

Finanzielle Armut und die damit verbundene soziale Situation beeinflussen das Ernährungsverhalten also auch an dieser Stelle indirekt. Mit dem paradoxen Ergebnis, dass die Familien entgegen ihrer Absicht, preisgünstig einzukaufen, zu teurem Fast Food und Süßigkeiten greifen. Denn ein knappes Haushaltsbudget wirkt sich immer auch auf die Handlungsmöglichkeiten, Entscheidungsspielräume und Prioritäten der Betroffenen aus. Trotzdem führt Geldmangel nicht bei allen Menschen gleichermaßen zu Fehlöernährung. Auch die haushälterischen Kompetenzen und das Bewusstsein für gesunde Ernährung spielen eine entscheidende Rolle. Eine gesunde Lebensweise ist deshalb nicht nur eine Frage des Geldes.

Quelle: UGB-Forum 2/07, S. 89-92